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Der Alt-Saxofonist Steve Coleman wurde im Jahr 1956 geboren und wuchs in einem der großen afro-amerikanischen Stadtviertel der USA auf, wo sein Musikempfinden zunächst vor allem von der in den 1960er und frühen 1970er Jahren aktuellen, Soul und Funk genannten afro-amerikanischen Tanz- und Unterhaltungsmusik geprägt wurde. Um 1971 begann er, sich das Improvisieren beizubringen und sich zu diesem Zweck eingehend mit der Musik von Charlie Parker auseinanderzusetzen. An Parkers Musik schätzte er unter anderem Max Roachs Schlagzeugspiel, dessen „funkige Art von Feeling“ ihn ansprach. Steve Coleman sagte später, er habe Roachs Stil stets als „funky“ empfunden, obwohl Roach „Swing spielte“.1) Über eine Passage in Parkers Live-Aufnahme des Stückes Ko-Ko (1948) schrieb Coleman sogar, Roach spielte hier eine der funkigsten Sachen, die er je gehört habe.2) In einem Workshop3) sang Coleman den Schlagzeug-Break4) vor, den Roach
nach der Einleitung des Parker-Stücks Klact-Oveeseds-Tene (1947)5) spielte, und zwar mehrmals, zunehmend langsamer. Dadurch zeigte sich, was man aufgrund des hohen Tempos und der Dichte der Parker-Musik sonst leicht überhört: Wie raffiniert und zugleich groovend Roachs Improvisation ist. Coleman sagte: „Dieses Zeug ist funky … Wenn man diese Struktur ansieht: das ist tödlich.“ Im Jahr 1983 trat der damals 59-jährige Max Roach mit jungen Hip-Hop-Musikern6) und Break-Tänzern auf. Nach dem Auftritt fragte ihn einer der jungen Tänzer, wie er noch mal heiße, und meinte dann: „Du bist echt in Ordnung“. Max Roach kommentierte: „Er hatte keine Ahnung, wer ich war, und sagte: Du bist in Ordnung. Das ist das schönste Kompliment, das man mir machen konnte.“7) Die Funkyness von Roachs Spielweise sprach also auch diese damals junge Generation an. – Steve Coleman schloss sich Ende der 1970er Jahre dem Schlagzeuger Doug Hammond an, der ihn anregte, sich die in den 1930er Jahren hervorgetretenen Schlagzeuger Big Sid Catlett, Chick Webb und Cozy Cole anzuhören. Coleman erkannte, dass es bereits in deren sowie Jo Jones Schlagzeugspiel „diese funkige Sache“ gab.8) Funkige Elemente kamen im Jazz also praktisch seit jeher vor. Allerdings waren sie auch noch bei Roach in die swingende Rhythmik der damaligen Musik eingebettet9) und durch die ständige spontane Veränderung seines kunstvollen Spiels oft nicht leicht wahrnehmbar10).
Die funkigen und rockigen Rhythmen der Tanzmusik, die in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt wurden, waren im Vergleich zu Max Roachs Improvisationen wesentlich einfacher, variierten viel weniger und hatten auch einen etwas anderen Charakter. Ende der 1950er Jahre begannen sie, bestimmte Bereiche des Jazz zu beeinflussen. Einer der jungen Schlagzeuger, die an dieser Entwicklung mitwirkten, war Billy Hart. Er wurde im Jahr 1940 geboren und „verliebte sich“ (wie er sagte) Mitte der 1950er Jahre in den Jazz, nachdem er von einem Jazzmusiker Charlie-Parker-Platten erhalten hatte. Daraufhin eiferte er Jazz-Schlagzeugern, vor allem Roy Haynes, nach, trat zunächst aber vor allem mit Bands auf, die afro-amerikanische Tanzmusik spielten. Dabei lernte er auch von jenen Schlagzeugern aus dem Süden, die für die Entwicklung der Rhythmen der Soul- und Funk-Musik entscheidend waren11). Er kam mit diesen Schlagzeugern in Kontakt, als sie mit den Sängern, die sie begleiteten, in Harts Heimatstadt12) auftraten.13) Als Schlagzeuger der Hausband eines Konzerthauses für populäre Musik begleitete Hart dann selbst Soul-Sänger wie Otis Redding, Sam-and-Dave, Joe Tex und Smokey Robinson.14) Ab dem Ende der 1950er Jahre trat er im Jazz-Kontext auf und wurde im Jahr 1964 vom Jazz-Organisten Jimmy Smith engagiert. Hart wollte bei Smith mehr über die Jazztradition lernen und Smith war an ihm interessiert, weil Hart den „neuen Beat spielen konnte“, wie Hart sagte. Im Zusammenhang mit der Entstehung des „neuen Beats“ sprach Hart davon, dass die Musiker der Bebop-Bewegung bereits in den 1940er Jahren die afro-kubanische Musik „umarmten“ und deren Rhythmen übernahmen. Das habe Viertelnoten in Achtelnoten umgewandelt. Was er damit meinte, erläuterte er, indem er eine Melodie auf zwei verschiedene Weisen vorsang: einmal „mit swingenden Achteln“15) und dann „mit einem Gleichmäßige-Achtel-Backbeat“16), wie es sein Gesprächspartner, der Jazzmusiker Ethan Iverson17), ausdrückte. Die aus der Bebop-Bewegung hervorgegangenen Schlagzeuger (Max Roach, Roy Haynes und andere) spielten diese Rhythmen nach Harts Erklärung allerdings noch „wie Chano Pozo und Machito“, also wie afro-kubanische Musiker. In den späten 1950er Jahren habe sich dann jedoch die neue Spielweise aus der populären Tanzmusik etabliert, die in der weiteren Entwicklung des Schlagzeugspiels eine bedeutend Rolle spielte. Hart sah diesen neuen Beat in Verbindung mit den Second-Line-Rhythmen aus New Orleans und betrachtete diese wiederum als eine Übertragung ursprünglich afrikanischer, von lateinamerikanischen Traditionen weitergereichter Rhythmen auf das Schlagzeug. Als junger Jazz-Schlagzeuger brachte Hart somit einerseits den Einfluss von Roy Haynes und andererseits den neuen Beat mit, den er durch eine Art Osmose in sich aufgenommen habe. An dieser Kombination war Smith offenbar interessiert.18) Nach zwei Jahren Mitgliedschaft in Smiths Band wechselte Hart (im Jahr 1966) in die Band des Gitarristen Wes Montgomery und schloss sich nach dessen Tod im Jahr 1968 dem Saxofonisten Eddie Harris an. Sowohl Montgomery als auch Harris bewegten sich wie Smith in einem Übergangsbereich des Jazz zu populärer Musik, in dem die Backbeat-Rhythmen der damals aktuellen Tanzmusik an Bedeutung gewannen. Hart war somit als Begleiter dreier bedeutender Vertreter dieser Entwicklung an ihr selbst beteiligt. Er sagte: „All das war Prä-Fusion-Musik, wie ich es heute sehe. Jimmy Smith, Wes Montgomery und Eddie Harris.“19)
Mehr dazu: Prä-Fusion
Als „Erfinder, Innovator, Vater und Designer des so genannten Fusion-Schlagzeugspiels, wenn nicht der Fusion selbst“, betrachtete Hart den Schlagzeuger Tony Williams, der als Mitglied des Miles-Davis-Quintetts der Jahre 1963 bis 1969 sowohl auf die Musik dieser Band20) als auch weit darüber hinaus einen großen Einfluss ausübte. Hart wies darauf hin, dass andere nicht seine Sichtweise teilen, und tatsächlich wird im Allgemeinen das Miles-Davis-Album Bitches Brew (1969), an dem Tony Williams nicht mehr mitwirkte, als wichtigster Auslöser der Fusion-Bewegung angesehen. Doch enthielt Williams Schlagzeugspiel schon lange davor wesentliche Elemente dieser Entwicklung und außerdem nahm er bereits kurz vor Bitches Brew ein Album mit starken Rock-Einflüssen auf.
Mehr dazu: Tony Williams Fusion
Die einflussreichsten und angesehensten damaligen Versuche, den Jazz mit neueren Formen der populären Musik zu „fusionieren“, fanden in Miles Davis‘ Musik der Jahre 1969 bis 1975 statt. Davis hielt seine Musik in einem Zustand des Experimentierens mit neuen Möglichkeiten der Soundgestaltung, er schuf gewaltigere Klanggemälde als je zuvor, blies seine Trompete oft mit starkem Körpereinsatz, ließ sich von avantgardistischen Konzepten der Konzertmusik inspirieren, suchte zugleich nach Verwurzelung im Blues und überzeugte mit seinem Groove so manchen Anhänger der Funky-Music. Allerdings blieb dabei das komplex strukturierte Spiel mit Melodie, Rhythmus und Harmonie, das die Meister der Jazztradition auszeichnet, auf der Strecke und Davis‘ „elektrische“ Musik schien auch mehr die klanglichen Möglichkeiten des Rock auszuschöpfen als das rhythmische Potential von James Browns Funk-Konzept.
Mehr dazu: Miles Davis Fusion
Mehr als Davis‘ Musik waren die meisten übrigen Ergebnisse, die die Fusion-Welle der 1970er Jahre hervorbrachte, nach kommerziellen Gesichtspunkten ausgerichtet, von Produktionsfirmen diktiert und an eher oberflächliche Unterhaltungsbedürfnisse angepasst. Der neue Reiz der „elektrischen“ Klänge schwand bald und die bedeutendsten Vertreter dieser Welle, die überwiegend aus Davis‘ Bands hervorgegangen waren, kehrten zu „akustischer“ (nicht-„elektrischer“) Musik zurück – zumindest dann, wenn ihnen künstlerische Aspekte wichtig waren.21) Wayne Shorter, der als Gründungsmitglied der Gruppe Weather Report selbst wesentlich an der Fusion-Bewegung der 1970er Jahre beteiligt war, sagte später: Es gehe darum, mit dem, was man hat, voranzuschreiten, und man solle sich nicht einbilden, voranzukommen, nur weil man etwas Elektronisches macht.22)
Auch Musiker, die zum Bereich des Free-Jazz gezählt werden, begannen Ende der 1960er Jahre mit aktuellen Tanzmusik-Rhythmen zu experimentieren. Ornette Coleman, einer der Pioniere und bedeutendsten Vertreter des Free-Jazz, erregte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit einer neuen Band Aufsehen, die über rockigen Grundrhythmen ein schräges Gewirr aus E‑Gitarren- und E‑Bass-Klängen erzeugte. Mitglieder dieser Band traten dann Ende der 1970er Jahre mit eigenen Gruppen hervor, die ebenfalls rockige/funkige Elemente mit Spielweisen des Free-Jazz verbanden. Diese Verbindung erschien manchen Jazzkritikern als Ausweg aus der Stagnation der Fusion-Welle und daher als vielversprechende neue Stilrichtung, die sie Free-Funk nannten. Es zeigte sich allerdings rasch, dass die Kombination populärer Rhythmen mit dem Auflösen von Strukturen, wie es im Free-Jazz üblich war, ein noch weniger tragfähiges Fundament für anspruchsvolle Jazzrhythmik bildete als die Kompromisse der Fusion-Musik.
Mehr dazu: Free-Funk
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