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Steve Coleman Interview, Anfang 2003

Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman1)
Eigene Übersetzung

 

Interviewer: Während ich an einer Studie über die Beziehung zwischen Improvisation und Sprache arbeitete, ersuchte ich den Saxofonisten Steve Coleman um ein Telefon-Interview zwischen Berlin und New York. Obwohl mir wohl bekannt war, wie offen und eloquent der Künstler Coleman ist (ich bin selbst ein Amateur-Saxofonist, der Steves Improvisationskurs auf der Berkeley-Unsiversität, wo er von 2000 bis 2002 lehrte, besucht hatte), war ich von Steves Ausdauer überrascht. Nach zwei Stunden rannte ich, um ein weiteres Tonband zu holen. Glücklicherweise fand ich irgendein altes, um es zu überspielen, als Steve damit fortsetzte, seine Philosophie der kosmischen Energie sowie auch seine Ideen zu Improvisation, Sprache, Struktur, Freiheit und Innovation darzulegen, wobei er seine Sichtweise oft mithilfe von sehr persönlichen Anekdoten darstellte. Nachdem er nach vier Stunden ohne Unterbrechung noch immer gut in Form war, erklärte Steve seine Motivation: „Wenn wir das schon machen, dann machen wir es besser ordentlich.“

Interviewer: Steve, ich möchte mit Dir heute über Improvisation reden. Mich interessiert ein sehr spezifischer Aspekt der Improvisation, und zwar die Beziehung zwischen Improvisation und Sprache. Viele Musiker haben die Jazz-Improvisation beschrieben, indem sie die Metapher der Sprache verwendet haben. Das kann viele verschiedene Dinge bedeuten. Lass mich mit dem idiomatischen Aspekt der Sprache beginnen, denn der hat den allgemeinen Diskurs der letzten Jahre beherrscht, vor allem in der Folge der Debatten über Wynton Marsalis Sicht des Jazz. Marsalis unterstützt eine Sichtweise, die er unter anderem mit Albert Murray teilt. Murray spricht von „idiomatischer Authentizität“ und betont, dass es bei der Improvisation nicht darum gehe, dass der Improvisator eine Art Innenleben ausdrückt, sondern mehr um das Meistern eines Idioms oder einer Sprache. Ich habe ein Zitat aus Murrays Buch „Stomping the Blues“ für Dich: „Die Authentizität irgendeiner Aufführung von Blues-Musik hängt auch nicht davon ab, ob der Musiker gegenüber seinen eigenen privaten Gefühlen wahrhaftig ist. Sie hängt von seiner idiomatischen Leichtigkeit und Konsistenz ab.“ (99). Lass uns diesen Aspekt als erstes berühren, diese spezifische Bedeutung der Sprach-Metapher.

Steve Coleman: Lass mich zunächst einmal klarstellen, worüber wir sprechen. Du hast mich zur „Jazz-Improvisation“ gefragt. Ich verstehe das, was ich spiele, nicht als „Jazz“ und ich verstehe mich selbst nicht als jemand, der einer „Jazz-Tradition“ folgt. Ich sehe auch Parker, Coltrane usw. nicht als „Jazz“ und ich sehe mich selbst sehr in derselben Tradition, zu der diese Leute gehörten. Nun, bevor wir zum Sprachthema kommen, möchte ich über eine andere Sache sprechen: Ich weiß nicht, inwieweit Albert Murray ein Musiker ist. Ich denke, er ist ein ausgezeichneter Schriftsteller und mehr das, was man früher einen Philosophen genannt hat. Die Tradition des Schreibens über Musik und des Denkens über Musik geht weit, weit zurück und diese Tradition ist normalerweise vom Spielen der Musik getrennt. Philosophen sind gewöhnlich sehr belesen und stützen sich auf eine Vielzahl von literarischen Materialien. Musiker spielen größtenteils einfach. Ich sag nicht, Musiker wären dumm oder so etwas, aber Musiker beziehen von anderen Musikern. Sicher, da gibt es Typen wie Wynton. Wynton ist belesen, Coltrane war sehr belesen, was das betrifft. Aber zunächst einmal, wenn sie in die Musik kommen, ist ihr anfänglicher Antrieb die Musik selbst, sodass die Entscheidungen, die sie treffen, um mit der Musik voranzukommen, damit zu tun haben, was in ihrer Zeit gerade passiert, womit sie sich auf ihrem Instrument beschäftigen müssen, welche Stile aktuell sind, wie man Arbeit kriegt, gewisse sehr praktische Dinge. In dieser Hinsicht ist für mich die Musik mehr ein Handwerk als eine Kunst.

Interviewer: Unterstellt das nicht, dass der Musiker in einer Art Vakuum lebt? Ich würde meinen, dass die Musiker in alle Belange involviert sind, ob sie nun politisch, philosophisch usw. sind. Bringen sie nicht all das in ihr Handwerk ein?

SC: Ja, aber das kommt später. Wenn Typen beginnen, viel zu lesen, und all das, dann können sie zu einer Haltung gelangen, bei der sie über die Kunst der Musik zu denken beginnen. Das ist eine Sache, die in den 40ern und 50ern oft geschah, zum Beispiel als schwarze Leute in den Vereinigten Staaten für die bloße Beachtung als menschliche Wesen usw. kämpften und sie sich damals allgemein mit der in Amerika vorherrschenden Kultur verglichen. Sie haben sich deshalb oft mit ihren weißen Entsprechungen verglichen und haben Dinge gesagt wie: „Gut, unsere Musik muss in der Carnegie Hall gespielt werden.“ Das zeigt einem das Modell, das sie verwendet haben. Und einige Leute gingen so weit, ihre Musik von diesen Elementen beeinflussen zu lassen. Ich sehe das in Gruppen wie dem Modern Jazz Quartett. Sie sagten sich: „Meine Musik ist nicht dafür angelegt, in einem Klub gespielt zu werden. Ich möchte sie auf einer Konzertbühne spielen.“ Später, als die Leute allmählich mehr integriert wurden, begannen sie, auch die Vorstellung von der Musik zu integrieren. Aber man hatte weiterhin die Notwendigkeit, einen Gig zu bekommen, seine Familie zu ernähren usw. – und die tatsächliche Funktion der Musik in der Community, die davon abhängt, auf welche Art von Community man bezogen ist.

Interviewer: Auf die Community kommt es an. Wenn das die eigentliche Funktion ist, dann schließen die praktischen Belange des Spielens die Community-Aspekte mit ein. In dieser Hinsicht sehe ich nicht, inwiefern ein Schriftsteller wie Murray die tatsächlichen Belange des Musikspielens unterschätzt.

SC: Zunächst einmal: Die heutige Situation ist hinsichtlich dieser Musik, über die wir jetzt sprechen, und der so genannten Community ein bisschen anders. Im Allgemeinen ist diese Musik nicht wirklich Teil der schwarzen Community – so kann man es am besten sagen. Nicht in einem offensichtlichen Sinne, wie auch immer. Sie kommt aus der schwarzen Community, kulturell. Vom Standpunkt der Vielfalt aus machen schwarze Leute heute eine Menge verschiedener Dinge und einige Leute, wie ich, haben zum Beispiel gewählt, Musik zu spielen, und wir verleugnen unsere Kultur nicht – nur weil wir eine besondere Art von Musik spielen, die im Gegensatz zu so etwas, wie LL Cool J macht, steht. Gleichzeitig brauchen die Leute einen Grund, um Musik zu spielen. Sie brauchen das Gefühl, dass sie einen Grund dafür haben, das zu tun. Aber, um auf den größeren Punkt zurückzukommen, Philosophen und Schriftsteller schreiben über eine ideale, intellektuelle Situation und berücksichtigen nicht die komplexen Parameter, die eine Rolle spielen und die alle auf einmal geschehen. Der Grund dafür, warum man Akkordwechsel spielt, je nach dem, in welchem Musikstil man sich bewegt … Zum Beispiel waren Coltranes und Louis Armstrongs Gründe genau die gleichen, auch wenn man sagen könnte, dass Coltrane eine Erweiterung dieser Tradition ist. Deshalb wurde Coltranes Musik letztlich zu einer Form von Gebet oder einem inneren Ausdruck, der sich mit der Beziehung des Menschen zum Universum und mit erweitertem Bewusstsein und all diesem Zeug beschäftigte. Und Louis Armstrongs Musik war ein Ausdruck von dem, was in seinem Inneren geschah, im Sinne von dem, was er sah. Aber er kam aus einer ganz anderen Gesellschaft und aus einer anderen Zeit. So hielt er Entertainment für wichtig – etwas, das Coltrane nicht als das wichtigste Element ansah. Ich meine, mir ist bewusst, dass das auch für mich gilt. Wenn ich auf die Bühne gehe, dann sehe ich das nicht von einem Minstrel-Standpunkt aus. Ich sehe das nicht von diesem Standpunkt aus: Ich komme heraus und wenn ich gehe, müssen diese Leute glücklich sein. Es ist mehr eine Ausdrucks-Sache.

Interviewer: Aber wenn Du sagst, dass es beim Spielen um persönlichen Ausdruck geht, dann bist Du in einer grundlegenden Übereinstimmung mit dem, was die meisten Autoren über den Jazz gesagt haben, zumindest seit den 30ern, und gegen das zum Beispiel Murray argumentiert. Jazz-Kritik wurde sehr auf die romantische Idee des individuellen Solisten, der seine inneren Gefühle ausdrückt, gegründet.

SC: Lass es mich auf folgende Weise erklären: Ich begann das Musikspielen nicht mit irgendeiner Art von Theorie im Kopf. Ich habe nicht genau so gedacht, wie ich heute denke. Ich habe mit dem Musikspielen begonnen, einfach weil ich Musik mochte. Ich mochte das Gefühl des Instrumentes, ich mochte es, Sounds zu produzieren, und all das. Für mich war es Spaß. Ich war ein Teenager, Du verstehst. Als ich feststellte, dass da eine höhere Ebene des Spielens beteiligt war, entschloss ich mich an einem gewissen Punkt: Okay, ich möchte wirklich lernen, wie man improvisiert. Ich hab mich nicht mit einer ganzen Menge psychologischen Zeugs zur Frage, warum ich das tun wollte, beschäftigt. Es war wie: Das ist interessant! Ich folge dem, was ich fühle. Und ich bin immer dem gefolgt, was ich fühlte. Ich denke, das ist die treibende Kraft. Und es hat auch das, was ich spiele, viel – eigentlich sehr, sehr viel – mit dem zu tun, was ich fühle. Es ist egal, was für eine Art von intellektuellem Zeugs ich studiert habe, all das wird von dem geleitet, was ich fühle – welche Dinge zu studieren ich entscheide. Ich versuche, so sehr mich selbst zu spielen, wie ich nur kann, und deshalb hat Feeling oder Emotion und Spiritualität, die eine höhere Form davon ist, sehr, sehr viel mit dem zu tun, was ich mache. In diesem Sinne widerspreche ich völlig dem, was Albert sagt. Vom Standpunkt eines Musikers aus.

Interviewer: Wie ist das vom anderen Gesichtspunkt aus?

SC: Wenn ich von einem philosophischen Standpunkt aus die gesamte Sache mehr im Überblick betrachte, dann kann ich all dieses idiomatische Zeug sehen, über das Albert spricht. Aber dieses Zeug entwickelt sich als ein Ergebnis des Dialoges zwischen dem Musiker, der Kultur und all dem. In jeder einzelnen Kultur, an jedem einzelnen Ort, wird man idiomatisches Zeug finden. Menschliche Wesen sind Gewohnheitstiere. Eine gewisse Gewohnheit wird in jeder Musik zu jeder Zeit auftreten. Selbst wenn man absichtlich versucht, jede Gewohnheit zu verhindern, wird man dabei wiederum eine Gewohnheit entwickeln.

Interviewer: Aber gibt es da nicht eine Wahl, die man treffen muss: Entweder man geht an das Idiom in der Weise heran, wie es Albert vorschlägt, oder man strebt einen persönlichen Ausdruck an? Sie wurde ja in dieser Weise formuliert, als eine Entweder-Oder-Frage. Und das hat zu modernistischen Credos wie „erschaffe es neu“ geführt, die oft nicht nur eine Umgehen jeder Gewohnheit meinten, sondern auch eine Umgehung von Idiomen.

SC: Es ist aber keine Entweder-Oder-Frage. Es ist eine Frage der Perspektive. Ich denke, man kann immer einen Schritt zurücktreten und bestimmte Trends in dem sehen, was Leute an einem gewissen Punkt gemacht haben. Aber genauso sehr entgehen einem gewisse Dinge dadurch, dass man nicht in ihrer Zeit ist. Vom Standpunkt des Zurücktretens und darüber Schreibens aus wird eine Analyse immer fehlerhaft werden – auf zwei Ebenen: Erstens wegen der Zeitdifferenz und zweitens, weil man in Wahrheit nicht einer der Beteiligten ist. Nun, im Fall von Wynton: Er ist von den Schriften Albert Murrays und von gewissen anderen Leuten, Richard Wagner, wer auch immer, beeinflusst. Er liest eine Menge verschiedenes Zeug, wie auch ich und andere Leute. Und mit der Zeit beginnt das, dein Denken zu beeinflussen, und die Entscheidungen, die man trifft, und all das. Ich bin von dem beeinflusst, was ich lese, und von dem daraus folgenden gründlicheren Denken in diese Richtungen. Das kann gut sein und es kann schlecht sein, aber es hat gewöhnlich nicht viel mit der Musik selbst zu tun, denn diese Leute sind gewöhnlich keine Beteiligten.

Interviewer: Das ist der Grund dafür, warum ich Musiker interviewe.

SC: Ich weiß, aber ich gebe Dir einfach diesen Subtext [Unter Subtext versteht man in der Linguistik und in den Künsten eine Bedeutungsebene, die der expliziten Aussage eines Satzes bzw. eines Kunstwerks als zusätzliche Ausdrucksdimension unterlegt ist. Wikipedia] als einen Ansatzpunkt für diese Differenzen zwischen … zum Beispiel dem, was Musiker denken mögen (und wenn sie ehrlich sind, dann gibt es darin eine Menge praktischer Gesichtspunkte), und dem, was man in Jazz-Publikationen lesen mag, die im Allgemeinen von Nicht-Musikern oder von Musikern geschrieben werden, die es nicht geschafft haben – ich meine Typen, die es nicht ganz geschafft haben, zu spielen. Sie begannen ein wenig und dann wechselten sie zum Schreiben.

Interviewer: Lass uns wieder auf die Improvisation und die Sprache zurückkommen. Was denkst Du persönlich über die Metapher der Sprache für die Improvisation? Macht diese Metapher für Dich Sinn, hat sie irgendeine Bedeutung?

SC: Ja, ich denke darüber in diesem Sinne. Es ist nur so, dass das nicht die einzige Hinsicht ist, in der ich darüber denke. Dies ist einfach ein Aspekt, denn ich denke, es hängt davon ab, was Du meinst, wenn Du „Sprache“ sagst. Kannst Du definieren, worüber Du sprichst? Sprichst Du über Englisch, Französisch, Spanisch? Oder meinst Du im weiteren Sinne die Kommunikation und solche Dinge?

Interviewer: Das ist es, was ich Dich frage. Schau, als ich erstmals begann, Interviews mit Musikern über Improvisation zu machen, da waren es die Musiker, die die Sprach-Metapher praktisch in jedem Interview ins Spiel brachten. Und ich fragte weiter: „Was meinst Du damit?“. Und ich bekam alle Arten unterschiedlicher Antworten.

SC: Okay, also ich werd Dir erzählen, was ich unter Sprache verstehe: Die erste Sache ist die Sprache selbst. Für mich ist die Sprache im Grunde genommen Kommunikation und mit Kommunikation meine ich nicht nur Worte und schon gar nicht bloß geschriebene Worte. Für mich bedeutet sie Kommunikation, mit welchen möglichen Mitteln auch immer: Schwingung, Gestik, was auch immer. Ich hab eine Freundin, wir kommunizieren auf alle Arten, wir setzen uns nicht einfach hin und reden die ganze Zeit. Da gibt es gesprächige Leute … Es gibt Mädchen, die sagen würden: „Du sprichst nie mit mir“. Du verstehst, es gibt diese Art. Aber wir kommunizieren in allen Formen. Liebemachen ist zum Beispiel Kommunikation, wie auch Sex-Haben ohne Liebe, miteinander essen, miteinander kochen, auf einen Jahrmarkt gehen oder einfach dasitzen und einander ansehen. Vor allem wenn Leute wirklich eng verbunden sind, dann gibt es eine Menge Gesten und Dinge, die Leute in der Kommunikation tun und die die Worte verstärken. Ich betrachte Worte als die Elemente, die es übernehmen, wenn Gesten allein nicht reichen. Nun, der Grund dafür, dass ich weiß, dass das richtig ist, ist der, dass ich mit dieser Frau in Kuba seit langem in Beziehung bin. Am Anfang unserer Beziehung sprach sie kein Englisch, null. Null. Ich sprach null Spanisch. Ich meine null. Wie können wir eine Beziehung haben, wie kamen wir zusammen? Ich denke eine Menge darüber nach. Auf was beruhte unsere anfängliche Kommunikation?

Interviewer: Sag jetzt nicht, es war Musik.

SC: Nein, es waren hauptsächlich Gesten. Da gab es dieses Verstehen, das allein aus den Schwingungen kam, um Dir die Wahrheit zu sagen. Da gab es nicht das „Oh, ich finde es interessant, was du sagst“. Und viele meiner Freunde, vor allem meine Freundinnen, zweifelten genau wegen dem an der ganzen Beziehung. Sie sagten mir immer: „Steve! Du verstehst sie nicht einmal! Ich kapier das nicht. Ihr könnt nicht miteinander reden und du bist eine sehr intellektuelle Person.“ Aber ich genoss es, mit ihr beisammen zu sein. Okay, wir konnten nicht miteinander reden, wir mussten daran arbeiten. Wir setzen uns immer noch nicht zusammen und haben ein Gespräch über Relativität – ich mein, wir machen es, aber es ist eine Anstrengung. Sie spricht immer noch nicht gut Englisch und ich spreche noch immer nicht gut Spanisch, aber im Laufe der Jahre entwickelten wir eine Art hybride Sprache aus Gesten, Grunzlauten, halb-englischen und halb-spanischen Wörtern. Und ich werde Dir jetzt etwas erzählen: Ich ging mit ihr, meinem Bassisten Anthony Tidd und einer ihrer Freundinnen kürzlich in ein Restaurant. Wenn ich mit ihr sprach, konnte ihre Freundin nichts von dem verstehen, worüber wir sprachen, und mein Freund konnte auch nichts davon verstehen. Da wurde uns klar, dass wir unsere eigene Sprache entwickelt hatten. Diese ganze Erfahrung ließ mich wieder die Sprache und Kommunikation betrachten und das ist wirklich mein Punkt. Wie ich sagte, diese Beziehung begann ohne Worte und ich dachte mir, vielleicht sind Worte nicht so wichtig. Es brachte mich dazu, über eine Menge Dinge nachzudenken, über die wir jetzt gerade bezüglich der Sprache reden.

Interviewer: Kommunikation durch Musik müsste – so nehme ich an – etwas auf einer Ebene zwischen Gestik und Worten sein?

SC: Musik und Worte sind auf einer völlig unterschiedlichen Ebene. Ich meine, ich erlebe es, dass Leute zu mir kommen, um mir zu sagen, wie sehr sie bei meiner Musik ausgeflippt sind und dies und das. Und sie sprechen mithilfe eines Übersetzers, denn sie sprechen überhaupt kein Englisch. Das lässt mich denken, dass diese Person etwas sehr, sehr Starkes empfängt, und die Sprache hat damit nichts zu tun, nicht eine Sprache wie Französisch, Deutsch, Englisch. Weil ich Sound verwende, um zu kommunizieren, gibt es etwas an diesen Sounds, das mit dieser Person kommuniziert. Wenn ich also aufgrund meiner Lebenserfahrung über Sprache rede, dann hat mein Konzept von Sprache wirklich etwas mit Kommunikation zu tun und die beginnt als aller erstes auf der Ebene der Schwingung, erweitert durch Gestik, erweitert durch Worte.

Interviewer: Nun, wenn Du Musik spielst, gibt es spezifische Methoden, mit denen Du versuchst, dieses Konzept der Kommunikation durch Sound einzubeziehen?

SC: Wenn ich an die Musik herangehe, dann beginne ich mit Schwingung und dann verstärke ich das zu Dingen, die jemand anderer als idiomatisch auffassen mag. Natürlich gibt es bei der Musik als einem Handwerk auch technische Dinge, mit denen man sich befassen muss. Es ist da immer ein System involviert, egal ob man das wahrnimmt oder nicht. Musik ist in erster Linie organisierter Sound. Es ist nicht einfach irgendein Sound. Wenn es einfach irgendein Sound wäre, dann wäre alles, was einen Sound macht, Musik. Man hört manchmal Leute das sagen, aber wir wissen, dass das nicht wahr ist. Wenn wir zum Beispiel Vögel hören, so mögen wir sie musikalisch hören, aber sie haben nichts mit unserer Musik zu tun. Wir hören sie und mögen sie als Musik interpretieren, aber sie kommunizieren untereinander, in der Vogelsprache, was immer das ist.

Interviewer: Du sagst, Vögel kommunizieren durch Sound, aber nur Menschen können Musik hören?

SC: Wenn wir Vögel wie Musik singen hören, ist das unsere Reaktion auf die Natur. Was wir Natur nennen, ist nicht wirklich die Natur. Was wir Natur nennen, ist in Wahrheit unsere Reaktion auf die Natur, unsere Interpretation von ihr.

Interviewer: Du klingst wie ein Idealist, Steve, vielleicht sogar wie ein Transzendentalist – vom Standpunkt eines Philosophen aus.

SC: Der Punkt ist: Alles ist interpretiert, egal an welche Art von Experiment man denkt, das man macht. Wir legen das Experiment fest. So ist es im Übrigen nicht objektiv. Die einzige objektive Sache ist die Natur außerhalb von uns und darüber können wir nicht einmal nachdenken, nicht einmal reden. Um auf diese idiomatische Sache zurückzukommen: War das Deine Frage über die idiomatische Sache?

Interviewer: Gut, die idiomatischen Strukturen, die ich im Sinn hatte, waren nicht aus der Natur abgeleitet, sondern mehr aus spezifischen Kulturen.

SC: Noch einmal, da gibt es keinen Gegensatz, denn da kommt die Zeit dazu. Auf der Basis, wie ich fühle, und auf der Basis der Schwingungen, denen zu folgen ich mich entschließe, werde ich mich entschließen, etwas zu machen, nennen wir es Variationen von irgendetwas, das in meiner Zeit populär ist. Aber ich kann nicht meiner Zeit entfliehen, ich kann nicht aus der Perspektive von jemandem denken, der 200 vor Christus lebte, zum Beispiel. Es ist unmöglich. Egal wie sehr ich es studiert habe. Gleichgültig, wie sehr ich ein Imitator bin oder ein kreativer Gestalter, all diese Dinge, sie sind alle durch die Zeit miteinander verbunden. Das Kreativste und das am meisten Nachahmende werden immer verbunden sein, im Sinne von Gesten, im Sinne von Zeit. Die Zeit hat eine bestimmte Macht, einen bestimmten Charakter. Man kann sagen, das erzwingt ihren Einfluss auf alles und jeden, der in dieser Zeit lebt. So ist es unmöglich, ein Mikrowellengerät, einen Computer, digitale Uhren zu haben und zugleich zu verhindern, dass dieses Zeug sich auf deine Musik auswirkt. Das ist nicht möglich. Alles, was man tut, und alles, was man ist, wirkt sich auf die Musik aus.

Interviewer: Steve, es klingt irgendwie widersprüchlich. Zuvor hast Du gesagt, dass Musiker überwiegend von anderen Musikern beeinflusst sind, nicht von Autoren, und jetzt sagst Du, dass sich alles um Dich auf Deine Musik auswirkt.

SC:
Ich meinte auf einer absichtlichen Ebene. Zuerst ist man hauptsächlich mit den praktischen Dingen befasst, aber natürlich kann man auch an diesem Punkt nicht aus seiner Kultur aussteigen, man kann nicht aus seinem Planeten aussteigen. Man hat all das, was uns mit der Zeit selbst verbindet. Noch einmal, es ist eine Frage der Perspektive. Was wir idiomatisch nennen, ist alles sehr mit einer Zeit verbunden, selbst wenn wir es mit der Vergangenheit vergleichen. Wenn ich die idiomatische Sache so nehme wie etwa Wynton oder David Murray oder sonst wer heute und ich vergleiche das mit dem, was sich bei Charlie Parker ereignete oder bei Louis Armstrong … gut, schau, dieser Vergleich wird von einer Person, die in einer Zeit lebt, gezogen. Ich habe nicht wirklich die Perspektive, die Charlie Parker und diese Typen zu jener Zeit hatten. Alles was ich habe, ist meine Meinung oder meine Sicht von dem aus jener Zeit. Im Endeffekt wird sogar mein Vergleich von dieser Zeit beeinflusst sein. Welche Zeit nennen wir unsere eigene Zeit? Wir haben keinen Namen dafür. Wir leben einfach, wir treffen jeden Tag Entscheidungen auf der Basis der Einflüsse rund um uns. Niemand wird diese Details später einmal sehen, niemand wird überhaupt wissen, dass Du und ich heute miteinander gesprochen haben, wenn Du verstehst, was ich meine. Sie werden den Artikel lesen oder was auch immer, aber sie werden nicht wirklich wissen, was geschah. Du kannst das Interview mit mir machen und dabei denken: „Gut, Steve entfernt sich echt vom Thema. Ich wünschte, er würde zum Thema zurückkehren.“ oder was auch immer. Du kannst alles Mögliche denken, während Du das Interview machst. Wenn Du das schreiben würdest und jemand würde es hundert Jahre später lesen, dann hätten sie einen Anhaltspunkt für die Details von dem, was da lief.

Interviewer: Du weichst tatsächlich nicht vom Thema ab und die Frage ist, ob jeder immer, gut, in seiner Kultur und Zeit … Wie eng und streng ist die Determination? Und im Zusammenhang mit dem Improvisieren stellt sich die Frage: Gibt es bestimmte musikalische Codes, die Deine Improvisation weitgehend determinieren oder hast Du als Individuum die freie Wahl, was Du spielen willst? Ich meine, das hat auch politische Auswirkungen. Eröffnet Improvisation zum Beispiel überhaupt irgendwelche Möglichkeiten, aus den Verengungen der Gesellschaft auszubrechen?

SC: Die Antworten auf diese Fragen hängen alle von der Richtung Deines Denkens ab. Denkst Du im Sinne eines integrativen Zugangs oder denkst Du über die Dinge im Sinne von Kategorien. Entweder Du denkst über die Unterschiede der Dinge nach oder über ihre Ähnlichkeiten. Nun, ich beschäftige mich die meiste Zeit mit dem, was ich korrelative Gedanken nenne, indem ich eine Sache mit einer anderen in Beziehung setze und schaue, in welcher Hinsicht die beiden Dinge dasselbe sind. So habe ich vieles, auf was ich mich bei meiner Musik beziehen kann. Ich kann mich auf, wie Du gesagt hast, literarische Quellen beziehen, aber ich kann mich auch auf Sport beziehen. Ich kann mich auf dies und auf das beziehen und oft versuche ich bewusst, direkte Verbindungen dazu in meiner Musik herzustellen, bis hinunter zu den technischen Elementen der Musik selbst. Mit anderen Worten, nicht nur emotional.

Interviewer: Kannst Du ein Beispiel dafür gebe, wie sich dieses korrelative Denken in Deiner Musik widerspiegelt?

SC: Zum Beispiel begann ich 1985 Computer zu programmieren. Es war eine Art intuitive Sache, die mich dazu führte. Jemand hat mir über Computer erzählt und ich mochte es immer schon, neue Sachen auszuprobieren. Als kleines Kind zerlegte ich oft Walkie-Talkies und Radios und solche Sachen. Ich war also angezogen von solchen Dingen, vom Sachen-Zerlegen, Basteln und all diesem Zeug. Als mir jemand über Computer erzählte, worüber ich überhaupt nichts wusste, und mir sagte, „sie beginnen Computer in der Musik zu verwenden“, da sagte ich: „Was meinst Du, Computer in der Musik, das ist verrückt“. Der Typ sagte: „Nein, nein, da gibt es jetzt etwas, das MIDI genannt wird“. Das war damals sehr neu. Und ich sagte: „MIDI, was ist das?“ Vom Fernsehen her, von Filmen wie Star Trek, wo Leute immer sagen, „Computer gib mir eine Analyse!“ und der Computer sagt: „20 % Sauerstoff“, dachte ich, ein Computer wäre ein Roboter. Aber der Typ sagte: „Du kannst einen Computer programmieren, sodass er tun kann, was Du willst.“ Als ich von dem kreativen Aspekt hörte, wurde mein Interesse entfacht. Ich sagte mir, wenn ich ihn dazu bringen kann, das zu tun, was ich will, dann kann ich ihn vielleicht dazu verwenden, zu erkunden, was ich bereits mache. Und ich hatte wirklich keine Ahnung, worüber ich redete, es war bloß ein Gefühl. Es war ein Gefühl, dass ich dieses Instrument als ein Werkzeug dazu verwenden kann, weiter zu erkunden, was ich bereits durch die Musik erkundete. Denn was mich damals vor allem interessierte … es gab bestimmte – ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll – geometrische Ideen, das ist die beste Art, wie ich es ausdrücken kann. Es war nicht wirklich geometrisch, denn ich bin kein richtiger Mathematiker, sondern es hatte mehr mit Formen zu tun. Und das hat mit der Tatsache zu tun, dass ich ein Künstler war, bevor ich ein Musiker war. Ich war sehr beeinflusst von Formen und solchen Dingen und ich bin es nach wie vor, sogar in meiner heutigen Musik. Ich wollte mehr im Detail wissen, was diese Formen waren und wie ich sie direkter in Musik umsetzen kann und das betrifft die Sprache der Musik selbst. Zunächst war das einfach intuitiv, ich versuchte einfach, bestimmte Formen anzustreben, die ich in meinem Kopf sah, aber nach einiger Zeit dachte ich, das ist nicht genug, ich muss es unmittelbarer wissen.

Interviewer: Warte, warte. Jetzt sagst Du, es gibt so etwas wie eine Sprache, die für das Medium der Musik spezifisch ist, und auch eine visuelle Sprache und Du kannst das eine in das andere übersetzen? Du möchtest visuelle Formen in Musik übersetzen?

SC: Ich möchte in der Lage sein, einen Berg anzuschauen und den Berg zu spielen. Ich hab das oft meinen Freunden erzählt und sie haben genau wie Du gesagt: „Was meinst Du? Du meinst, vom Berg inspiriert zu sein?“ Ich sagte: „Nein, nicht nur inspiriert. Natürlich bin ich von ihm inspiriert, aber ich möchte den Berg spielen, buchstäblich, den Berg spielen.“ Sie sagten: „Gut, was meinst Du damit?“ Ich sagte: „Ich möchte den Berg anschauen und so etwas wie Notation sehen und in der Lage sein, es zu spielen.“ Sie dachten, ich wäre verrückt. Sie lehnten wohl einfach ab, was ich sagte. Aber mir war es ernst. Ich wollte in der Lage sein, das Flugmuster einer Biene anzuschauen, das Flugmuster eines Vogels, und das zu spielen. Oder zu erreichen, dass es direkt meine Musik beeinflusst, so dass ich beinahe in der Lage bin, die Natur als eine große Geste zu betrachten. Man kann es Notation nennen. Ich mein, was ist Notation? Es ist ein Bündel von Symbolen, die einem sagen: mach das nicht, mach das. Aber ich wollte in der Lage sein, das Leben mit meinen Augen und genauso gut mit meinen Ohren zu betrachten und das in Sound zu übersetzen. Das war und ist nach wie vor eine meiner größten Sachen.

Interviewer: Wie kann Dir ein Computer helfen, mit der Natur in Verbindung zu kommen?

SC: Ich dachte, dass ich vielleicht mithilfe des Computers als Werkzeug einige Aspekte von dem erforschen könnte, wie das zu machen wäre. Ich kann es Dir heute erklären, aber damals war es intuitiv. Nun, lass mich ein Beispiel nennen: Beim Lernen über den Computer und beim Lernen, wie man mit dem Computer umgeht, gibt es natürlich bestimmte Dinge, die für den Computer idiomatisch sind. Wenn man nicht genau das tut, was von einem erwartet wird, tendieren die Dinge dazu, nicht zu funktionieren. Und wenn man sich ins Programmieren begibt, dann trifft das noch mehr zu. Schließlich kam ich in etwas, das Assemblersprache genannt wird, denn zu der Zeit waren Computer sehr langsam und um irgendetwas zu machen, musste man wirklich unter das Betriebssystem gehen. So verwendete man die Assemblersprache oder manche Leute nannten es Maschinensprache, was einfach diese Eins-und-Null-Art von Sprache ist, sehr, sehr grob gesprochen. Und man muss genau wissen, was man zu tun versucht, und muss die Formulierung in einer wirklich exakten Weise hinkriegen. Man muss also diese Strukturen lernen, sie basieren alle auf dem, was die Leute allgemein boolesche Logik nennen. [In der Mathematik ist eine boolesche Algebra (oder ein boolescher Verband) eine spezielle algebraische Struktur, die die Eigenschaften der logischen Operatoren UND, ODER, NICHT sowie die Eigenschaften der mengentheoretischen Verknüpfungen Durchschnitt, Vereinigung, Komplement abstrahiert. Wikipedia] . Als ich diese Strukturen lernte und all dass, bemerkte ich, dass es da so viel gibt, was sehr ähnlich wie musikalische Strukturen ist. Denn, wie Du weißt, haben die Menschen die meisten Strukturen geschaffen und sie sind daher nicht völlig unterschiedlich. Selbst bevor ich zu dem kam, was ich zu schaffen versuchte, bemerkte ich, dass ich die Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen der Programmiersprache und den Strukturen, die ich in der Musik gelernt habe, beobachtete. Und da sah ich natürlich, dass einige Dinge ähnlich und andere unterschiedlich waren. Die unterschiedlichen Dinge waren für mich die interessantesten, denn ich dachte mir: Toll, du hast diese Art von Struktur in dieser Programmiersprache – wir könnten doch eine Struktur wie diese in der Musik verwenden.

Interviewer: Ich habe nie gemerkt, dass Deine Musik wie eine Computersprache strukturiert ist.

SC: Du musst es aus der Richtung des korrelativen Denkens betrachten. Ich gebe Dir ein Beispiel: Man hat bei Computern oft diesen „Wenn-dann-oder“-Typ von Struktur. Wenn dies, dann tu das. Oder tu dies. Es kann mehrere Oder geben. Es ist also diese Art Wahl, die vom Geschehen abhängt. Ich dachte mir, diese Art von Struktur wäre in der Musik gut. So kann man zum Beispiel eine A-A-B-A Form nehmen, um eine sehr typische Songform dieses Idioms zu verwenden. Es ist auch eine lineare Form. Und dann gibt es Leute, die nicht solchen Formen folgen. Sie spielen einfach. Ich dachte mir, es wäre fein, wenn man etwas dazwischen haben könnte – diese Art von proteischer Struktur, bei der man eine Form hat, die aber nicht immer gleich bleibt. Die Form hängt vom musikalischen Geschehen ab. Sie verändert sich entsprechend, aber es gibt eine exakte Form. Dies war für mich das, was mehr im Leben geschieht. Das Leben verläuft sehr selten nach Plan. Denn alles kann passieren. Dein Plan verändert sich. Und man muss sofort neue Entscheidungen treffen. Ich dachte mir also, ich möchte das als Metapher für meine Musik verwenden. Das geschieht ohnehin in der Musik, aber ich wollte es in die Struktur einbauen, was einen Unterschied zu dem ergibt, das einfach im Rahmen der A-A-B-A Form abläuft.

Interviewer: Was für eine Art von Form wäre das also?

SC: Sagen wir, die Form wäre A-B-C-D. Man hat also vier Abschnitte und welcher Abschnitt als nächster drankommt, hängt von Gegebenheiten ab. Das ist eine Idee, die mir zuerst bei der Betrachtung von Programmiersprachen kam, aber auch bei der Betrachtung des Lebens. Das Leben ist viel komplizierter als das, wie Du weißt. Ich gebe Dir ein sehr einfaches Beispiel: Sagen wir, du gibst dem Schlagzeuger am Ende eines Abschnittes zwei mögliche Figuren zum Spielen. Ich meine, er hat zwei mögliche rhythmische Sachen, die er spielen kann. Nennen wir sie a und b, einfach um sie zu bezeichnen. Sagen wir, du hast einen Gitarristen mit zwei möglichen melodischen oder harmonischen Figuren, die er spielen kann, und wir nennen sie 1 und 2. Er hat eine Wahl zwischen 1 und 2, aber er muss eine der beiden spielen. Dasselbe gilt für den Schlagzeuger. Er muss an diesem Punkt a oder b spielen, eines der beiden. Du komponierst den Song in der Weise, dass sich dieser Punkt gleichzeitig abspielt. Wenn wir also zu diesem Punkt kommen, dann werden wir somit a-1, a-2, b-1 oder b-2 haben. Und a und b sowie 1 und 2 sind wirklich kurz. Sie dauern etwa zwei Beats oder so. Wenn wir also zu diesem Punkt kommen, dann spielen sie diese Sachen, und die Kombination von dem, was sie spielen, bestimmt den Abschnitt, zu dem wir gehen. Nach einem a-1 gehen wir zu A, nach einem a-2 gehen wir zu B, nach b-1 gehen wir zu C und nach b-2 zu D. Sie wirken also wie eine Steuerung, kann man sagen. Sie sind nicht zufällig, sondern hängen von Entscheidungen ab, die zu treffen sind. Es ist einfach wie die boolesche Logik-Sache beim Programmieren. Man hat diese Eventualität und man plant für den Eventualfall. Nichts anderes kann geschehen, wenn die Typen machen, was von ihnen erwartet wird.

Interviewer: Auf einer weniger strukturierten Ebene könnte das genauso innerhalb der A-A-B-A Form erfolgen. Man bleibt innerhalb der Form, aber man wechselt etwa zum doppelten Tempo oder so etwas, sobald einer der Musiker dazu ein Signal gibt.

SC: Natürlich, wir machen das die ganze Zeit selbst in A-A-B-A Formen. Es hängt von der Abmachung zwischen den Musikern ab, denn man spielt mit Leuten, mit denen man gewisse Abmachungen hat. Und manche Leute spielen diese Standards etwa in folgender Weise: Wir spielen eine Weile in der A-A-B-A Form, aber danach kann es völlig offen sein. Es kann sich in etwas anderem auflösen. Sie machen das aufgrund einer Absprache. Und weil sich das einige Musiker früher ausdachten und es musikalisch akzeptiert ist. Die Leute machen, was in der Gruppe der Musiker, mit denen sie spielen, musikalisch akzeptiert ist. Sonst würde man beim Allein-Spielen enden. Andere sagen: „Nein, wir haben A-A-B-A zu wahren, egal was geschieht. Unsere ganze Freiheit muss sich innerhalb von A-A-B-A abspielen.“ Es ist einfach eine Frage der Entscheidungen, die man davor trifft. Aber beide Entscheidungen sind ein Übereinkommen. Es geht um Übereinkommen und manchmal, eigentlich oft, ich sag Dir die Wahrheit, läuft es auf die Ebene der Geschicklichkeit hinaus. Es läuft darauf hinaus, was man machen kann. Denn einige Musiker sind auf einem ausreichend hohen Niveau, um tatsächlich einen Kick daraus zu beziehen, dazu fähig zu sein, die Struktur präzise beizubehalten und gleichzeitig darin völlig frei zu sein. Und oft ist das für mich der Kick beim Hören von dem, was Art Tatum oder Charlie Parker gemacht haben. Sie klingen völlig frei und gleichzeitig gibt es da dieses sehr hohe Niveau der Struktur. Ich hatte oft diese Diskussion mit Dave Holland, als ich bei ihm zu spielen begann.

Interviewer: Das muss irgendwann um 1980 herum gewesen sein.

SC: Nachdem er mit Sam Rivers und mit „Circle“ gespielt hatte, ja. Ich begann ungefähr 1978/79 mit ihm darüber zu reden, etwas miteinander zu machen, aber wir kamen tatsächlich erst ungefähr 1981 zusammen. Als wir damit begannen, miteinander zu spielen, hatten wir diese unterschiedlichen Vorstellungen von dem, was wir mochten. Wir setzten uns zusammen und hörten Platten. Wir hatten natürlich unterschiedliche Auffassungen. Manchmal waren sie einfach eine Frage von Geschmack, oft kulturelle Unterschiede. Er wuchs in England auf, ich in Chicago. Aber es gab auch viele Dinge, die wir offensichtlich gemeinsam hatten, sonst hätten wir uns nicht zusammengesetzt und miteinander gesprochen. Als es darum ging, Musik zu machen, sagte er mir, warum er mit mir spielen möchte, und ich sagte ihm, warum ich daran interessiert war, mit ihm zu spielen. Eine der größten Meinungsunterschiede waren – so zu sagen – unsere Vorstellungen über Struktur. Für ihn, würde ich sagen: Er kam einfach von der Free-Form her und er fand es wirklich anregend, absolut keine Parameter vorzugeben. Ich sagte: „Dave, wenn du keine Parameter vorgibst, ist das so wie Parameter vorzugeben.“ Und er sagte: „Was meinst du damit? Ich habe die Freiheit zu spielen, was ich möchte!“ Ich sagte: „Wenn du jemandem die Freiheit gibst zu spielen, was er möchte, so wird er dazu tendieren, dieselbe Sache immer wieder zu machen.“ Er nahm mir das nicht ab, anfangs. Ich sagte: „Lass jemanden immer wieder das tun, was immer er möchte, ich meine völlige Freiheit, dann wird er in ein gewisses Verhalten verfallen und dasselbe immer wieder machen.“ Tatsächlich ist Freiheit für mich Wahlmöglichkeiten haben.

Interviewer: Das ist ein ziemlich einschränkendes Verständnis von Freiheit, das davon ausgeht, dass man nicht selbst der ist, der entscheidet, was man auswählen kann.

SC: Zunächst gibt es nicht so etwas wie Freiheit. Wir sind Menschen, wir sind Gewohnheitstiere. Aber wenn wir mehr Wahlmöglichkeiten haben, dann ist die Illusion der Freiheit größer, als wenn wir weniger haben. Der durchschnittliche Musiker (oder Musikerin) wird nicht gewisse Fähigkeiten entwickeln, wenn man ihm sagt, er soll tun, was er möchte, denn er wird in das verfallen, was für ihn am leichtesten ist. Wenn man ihn aus gewissen Gewohnheiten herauszwingt, wird er gezwungenermaßen bestimmte Fähigkeiten, mit diesen Dingen umzugehen, entwickeln. So hatten wir diese Meinungsverschiedenheit immer wieder und wieder. Die Auseinandersetzung wurde von der Musik selbst gelöst. Denn nachdem wir zu spielen begannen … Seine Herangehensweise war, offene Themen zu schreiben, und meine, Themen mit diesen verändernden Strukturen zu schreiben, und dann war da noch Kenny Wheeler, der meistens von einem harmonischen Standpunkt aus schrieb. Die Musik, die die Leute hörten, war eine Kombination all dieser Herangehensweisen. Es gab also nicht bloß eine Herangehensweise. Letzten Endes begannen diese Dinge einander zu beeinflussen und gewissermaßen zusammenzukommen. Ich fand einige Punkte in dem, was er sagte, und er fand einige Punkte in dem, was ich sagte, und so wurde der Charakter der Gruppe geformt. Schließlich kam er dahin, dass fast seine gesamte weitere Musik irgendeine Form von Struktur hat, wie man an seiner heutigen Musik sehen kann. Seine Musik begann, mehr und mehr Struktur zu erhalten. Er begeisterte sich wirklich für Rhythmen, denn das ist es, was mich begeisterte. Gleichzeitig spürte ich gewisse Vorteile in dem, was er machte, und in der Sprache, mit der er sich beschäftigte. Ich betrachtete es mehr wie die Leute, die ihn beeinflusst hatten, Leute wie Sam Rivers, mit dem ich auch gespielt hatte. Es war Sam Rivers, der wirklich diese starke offene Sache am Laufen hatte. Was ich aber entdeckte, war, dass die Leute, die wirklich am besten offen spielten, Struktur kannten. Ich meine, was ich über Struktur sage, ist, dass die Struktur selbst ein beeinflussender Faktor ist, der einen zwingt, sich mit ihm auseinanderzusetzen, wenn man ihn als organisatorischen Faktor einführt.

Interviewer: Du meinst wie eine befreiende Einschränkung?

SC: Ja, aber „befreiend“ ist irreführend. Wir werden nie frei sein. Vergiss das. Bei der Struktur-Sache geht es vielmehr darum, dass man nicht einer Täuschung erliegt, indem man denkt, man täte, was immer man tun möchte. Für mich ist Coltranes Leben das perfekte Beispiel dafür. Er nutzte Struktur, um Vielfalt zu erreichen. Das Wort, das ich dafür vorziehe, ist nicht Freiheit, sondern Vielfalt. So kann man feststellen, dass er in einer bestimmten Weise spielte und auf gewisse Arten von strukturellen Dingen stieß – um die Zeit, als er dieses Giant-Steps-Zeug machte, bei dem er spürte, er müsste das erforschen. Er erforschte das definitiv bis zu einem lächerlichen Grad. Er machte es anhand von Standards, er machte es anhand von Eigenkompositionen. Er erhielt daraus eine Menge Antworten. Eine Menge Antworten selbst aus den Musikerkreisen. Selbst von den Musikern seiner Band. Einige Leute sagten: „Mann, warum müssen wir all diese Akkorde spielen?“ Andere Leute außerhalb der Gruppe sagten: „Du weißt wohl, das ist irgendwie steif, all diese Akkorde zu spielen.“ Und andere Leute fuhren darauf ab. Er gab ein Interview, in dem er sagte, er habe mit Ornette Coleman gesprochen und Ornette Coleman habe zu ihm gesagt: „Wenn du all diese Akkorde spielen willst, dann mach weiter, aber warum musst du das der Rhythmusgruppe aufbürden?“ Und so dachte er darüber nach.

Interviewer: Zur selben Zeit spielte er in Miles Davis Gruppe.

SC: Genau, wo Miles ja in die entgegengesetzte Richtung ging, indem er sich mit dem beschäftigte, was ich Farbenmusik nenne. Das machte aus Miles Perspektive mehr Sinn, denn Miles war nie wirklich so etwas wie ein technischer Spieler, er war immer eine Art Farbenspieler, mehr wie Lester Young, selbst als er Birds Musik spielte und als er „Rhythm Changes“ [Akkordwechsel, die auf „I Got Rhythm“ zurückgehen] oder was auch immer spielte. So machte es Sinn, dass er von dieser Art Sache angezogen wurde, von der so genannten modalen Musik. Und was Trane anbelangt, kann man sehen, wie diese beiden Dinge zusammenkamen. Er sagte, okay, die Band braucht nicht unbedingt all diese Strukturen zu spielen. Aber er fuhr damit fort. Und er wurde freier und freier und darin immer fließender. Wenn man zum Beispiel eine offene Quinte spielt und dagegen all diese Strukturen ablaufen lässt, dann sind die Strukturen nicht exakt festgesetzt. In anderen Worten, es ist keine A-A-B-A Sache, es ist keine Sache, die exakt festgesetzt ist.

Interviewer: Du meinst, weil es auf einem Modus [mode, Skala] beruht?

SC: Er hat das nicht nur über dem so genannten modalen Material gemacht, sondern auch über Standards. Es gibt viele Beispiele von ihm, wie er mit Miles Band gespielt hat, in der sie Rhythm Changes spielten. Er kommt etwa zur Überleitung und durchläuft diese Strukturen in jeder Richtung außer rückwärts. Es ist beinahe so: Ich sage: „Gehen wir, Du und ich, zum Geschäft.“ Und Du sagst: „Weißt Du was, ich muss zuerst etwas anderes machen, wir treffen uns beim Geschäft.“ So gehe ich los und mach einige Dinge, aber wenn Du zum Geschäft kommst, werde ich da sein. Oder ich komme eine Minute nach Dir an oder so ungefähr. Ich schlag also einen anderen Weg zum Geschäft ein, aber meine Absicht ist nach wie vor, Dich beim Geschäft zu treffen. Das ist im Grunde genommen das, was Trane melodisch und harmonisch gemacht hat. Er wusste, wo die Rhythm Changes umgingen, natürlich, er hatte ja sein Leben lang Rhythm Changes gespielt. Er wusste exakt, was vor sich ging. So kommt er etwa zur Überleitung und geht von da aus diese alternativen Wege. Und wo die meisten Musiker ein oder zwei Akkorde substituieren würden, da substituiert er eine ganze Reihe von Akkorden. Es ist eine Art von „Ich treff Dich beim Geschäft“-Sache. Und als Jimmy Cobb und Wynton Kelly und all diese Typen zum Geschäft kamen, war Trane da. Diese Dinge wurden länger und länger, denn die Strukturen selbst schufen Wege. Es war fast, als würde er seine eigene Straße bauen, aber es ist nach wie vor Struktur. Es ist einfach so, dass die Struktur sehr verformbar geworden ist. Er konnte sie formen, gewissermaßen spontan, während er sie durchlief. Das war die Art Sache, die mich an dieser Musik echt interessierte.

Interviewer: Ich verstehe es also so, dass es für Dich überhaupt keine offene Form gibt.

SC:
Für mich nicht. Als mir Dave sagte, dieser Song sei offen, spielte ich ihn wirklich nie offen. Was ich machte, war, spontan Wege zu konstruieren, im Gegensatz zu einem offen Spiel. Es ist beinahe wie dieses Gespräch, das wir führen. Ich weiß nicht genau, was ich sagen werde. So konstruiere ich gewissermaßen spontan den Weg. Aber es gibt Elemente in der Sprache, die mir das ermöglichen. Diese Strukturen sind sehr wichtig für mich, denn sie repräsentieren in gewissem Sinne die Gedanken.

Interviewer: Da ist sie wieder. Während all der Zeit, in der wir über Strukturen sprechen, sprechen wir über die Sprach-Metapher. Und wenn ich Dich richtig verstehe, verstehst Du Struktur oder Sprache nicht als etwas rein Funktionales im Sinne der Erleichterung der Kommunikation. Für ihren Zweck, Gedanken zu repräsentieren, scheint ihre Form von Bedeutung zu sein.

SC: Natürlich. Diese Strukturen sind sehr wichtig. Sie sind für mich nicht einfach technische Dinge. Sie haben letztlich eine Menge mit einer Schwingung zu tun, die man auszudrücken versucht, was meines Erachtens die wichtigste Sache ist. Musiker müssen – wie auch Architekten oder sonst wer – die Sprache der Musik, das Handwerk erlernen. Man muss sich damit beschäftigen, egal ob man Kenny Gs Musik oder meine Musik spielen wird. Aber die Sache, über die ich jetzt spreche, ist für mich der Punkt, wo die Kreativität ins Spiel kommt. Mit welcher Art von Wegen, welcher Art von spontanen Strukturen – nachdem wir ja mit Improvisation zu tun haben – wird man sich befassen? Und welche Art von Parametern wird man sich selbst vorgeben?

Interviewer: Was Du als Dave Hollands ursprüngliche Einstellung beschrieben hast, ist meines Erachtens typisch dafür, was viele europäische Jazz-Musiker der späten 60er und 70er Jahre dachten. Viele von ihnen begrüßten den Free Jazz nicht, weil sie an Struktur interessiert waren, sondern weil sie spürten, dass der Free Jazz es ihnen ermöglichte, von Klischees wegzukommen, von Sachen, die zu oft gespielt und zu oft benutzt wurden. Für viele von ihnen war das Ziel, etwas hervorzubringen, das keine weitere Imitation des amerikanischen Jazz war, sondern vielmehr originär und authentisch europäisch. Und das bedeutete auch, dass es neu sein musste. Da sahen sie die Kreativität ins Spiel kommen. Dieser gesamte Zugang scheint natürlich sehr verschieden von dem zu sein, was Du gerade beschrieben hast. Ich frag mich dennoch, ob es da – irgendwo versteckt – letztlich einige Gemeinsamkeiten zwischen diesem Zugang und Deinem Zugang gibt?

SC: Für mich ist „neu“ eine weitere dieser Illusionen wie Freiheit. Es gibt kein Neu, es gibt keine Freiheit. Mein Ziel ist sicher nicht, etwas Neues zu schaffen. Mein Ziel ist es geradezu, etwas Altes zu schaffen. Das mag befremdlich klingen, aber ich mein es in einer möglicherweise anderen Weise. Ich werde es erklären: Das Leben, das wir leben, der Planet, auf dem wir leben, ist sehr, sehr alt. Ich strebe nicht an, mit etwas Neuem daherzukommen, jenseits von dem, was ich bin, denn das hat nicht viel damit zu tun, was wir sind. Es kommt also darauf an, was man über das Leben und alles glaubt, was nach der jeweiligen Auffassung alles erschaffen hat oder ob es erschaffen wurde. Aber egal, ob man glaubt, dass die Dinge von etwas erschaffen wurden oder nicht, so können wir doch darin übereinstimmen, dass etwas geschah, was immer es auch war. Mit anderen Worten: Einige Leute mögen sagen, dass es einen Gott gibt und dass Gott das und das erschaffen hat, und sie denken von Gott als einem alten Mann im Himmel mit Superkräften. Manche Leute denken von Gott als eine Art Energie, eine lebendige Energie, die in allem im Universum steckt. Manche denken, dass es überhaupt keinen Gott gibt, dass die Dinge bloß zufällig geschahen. Aber auf einer kosmischen Ebene spielt es einfach keine Rolle, welcher Meinung man ist. Was geschah, das geschah. Es geschah ohne Rücksicht darauf, was man glaubt. Wenn du also glaubst, dass es einen Geist im Baum gibt, der alles erschuf, ist das deine eigene Sache. Das ändert nichts an der Tatsache, von wo du hergekommen bist und von wo der Baum herkommt. Die einzige Sache, der ich mir ziemlich sicher bin, ist, dass das, was den Baum erschuf, auch mich erschuf. Was den Planeten erschuf, erschuf auch mich, was immer das war. Ich kann darüber im weitesten Sinne sprechen. Ich selbst als Steve Coleman, als – was immer ich glaube zu sein – habe damit wenig zu tun. Mein Glaube geht tiefer als das, aber die allgemeine Sache ist, dass ich glaube, dass es eine Art Energie gibt, die ein Teil von uns allen ist und die von jedem von uns in einer individuellen Weise ausgedrückt wird.

Interviewer: Du meinst in einer pantheistischen Art und Weise?

SC: Ich denke im Sinne von Energie. Wonach ich in meiner Musik suche, ist der Sound-Ausdruck dieser individuellen Weise, die durch uns ausgedrückt wird, also dieses Individualismus. Ich glaube, dass die Energie, die in Dir ist und die in mir ist, die in jedem anderen ist, egal ob es eine Ratte oder ein Löwe ist, grundsätzlich dieselbe Energie ist. Aber sie wird ausgedrückt, sie wird individualisiert in dieser Existenz. Sie wird in verschiedenen Spielarten in die Welt projiziert. Deshalb bist Du in diesem Sinne nicht ich. Wenn wir über Kultur und all diese Fragen sprechen, dann sind das alles lokale Fragen. Sie alle betreffen lokale Situationen. Aber letztendlich sind diese Dinge kosmische Fragen. Die Art, wie das Universum aufgebaut ist, ist genial. Die Dinge existieren in einem höheren Grad, als man jemals denken kann, in einem höheren Grad an Details. Und gleichzeitig glaube ich, dass die Prinzipien, die die Dinge auf dieser kosmischen Ebene antreiben, auch die Dinge bis hinunter zu den kleinsten mikroskopischen Details steuern. Es ist unbegrenzt, es erscheint zumindest von meinem Standpunkt aus als unbegrenzt. Unbegrenzt groß und unbegrenzt klein und wir sind irgendwo in der Mitte von dem. Daher müssen wir uns mit unserem Individualismus beschäftigen. Es gibt ein Muster, das alle Menschen miteinander verbindet, aber jedes menschliche Wesen ist verschieden.

Interviewer: Okay, aber betonen diese Leute, die etwas Neues spielen wollen, nicht einfach diesen Individualismus?

SC: Ich nenne meine Musik nicht wegen dem Individualismus neu. Sie mag einzigartig sein, wenn ich in ausreichend weiten Bögen denke und in ausreichend weiten Perspektiven und ich genug studiere, wenn ich tiefer in mich und meine innere Natur hineinhöre. Ich denke, dass es das ist, was die so genannten einzigartigen Leuten als einzigartig erscheinen lässt. Das ist hauptsächlich eine Funktion davon, nicht blindlings einer bestimmten Sache zu folgen. Die meisten Leute denken überhaupt nicht über solche Dinge nach. Sie folgen ihnen einfach blindlings. Sie leben ihre Leben entsprechend den Parametern, die für sie in der jeweiligen Zeit festgesetzt sind, was immer für welche das auch sein mögen. Mit anderen Worten, die sind Roboter, um es hart auszudrücken.

Interviewer: Ziemlich hart, ja.

SC: Aber es ist wahr, die meisten Leute SIND Roboter. Und manche steigen ein bisschen aus dem aus. Sie arbeiten daran, Fähigkeiten aufzubauen, die das ausdrücken. Andere rebellieren nur einfach. Ich kann gegen alles rebellieren. Ich könnte einfach sagen: „Ich mag keinen Scheiß.“ Ich muss nicht unbedingt eine Reihe von Fähigkeiten entwickeln, um das auszudrücken, ich brauch bloß asozial zu sein. Oder ich könnte negative Fähigkeiten entwickeln, herumgehen und den Scheiß in die Luft jagen und sagen: „Das ist eben meine Art, mich auszudrücken.“ Aber ich wähle, mich in einer kreativen Weise auszudrücken, die zu dem führt, was ich als eine positive Richtung im Sinne einer Bewusstseinserweiterung verstehe. Ich wähle nicht, Dinge in die Luft zu jagen oder herum zu gehen und Leute zu töten, Dinge zu zerstören. Das ist nicht meine Art zu versuchen, einen Beitrag zu leisten, um eine Veränderung in eine positive Richtung zu bewirken, denn das führt nur zu mehr Zerstörung. So wähle ich, statt in den Krieg gegen den Irak zu ziehen oder so etwas, mich mit Musik zu beschäftigen. Und ich wähle, mich mit einer Musik zu beschäftigen, die einen erweiternden Charakter hat.

Interviewer: Das macht Musik und Kunst zu einer ziemlich moralistischen Angelegenheit, oder?

S.C.: Der Punkt ist nicht, ob es moralistisch ist oder nicht. Der Punkt ist: Du hast eine Wahl. Sonny Rollins sagte mir kürzlich, dass es zwei Arten von Musik gibt: die, die verkürzt, und die, die erweitert. Damit stimme ich grundsätzlich überein. Ich wähle, mich mit einer Musik mit diesem erweiternden Charakter zu befassen. Das ist mein letztendliches Anliegen bei der Struktur. Ich meine, bevor wir über mein lokales Anliegen als Musiker sprechen, über das, was mich interessiert.Mein letztendliches Anliegen ist, mich mit Dingen zu beschäftigen, die eine Bewusstseinserweiterung fördern. Ich versuche, mich mit einer Musik zu befassen, die letztlich einen erweiternden schwingungsmäßigen Effekt hat.

Interviewer: Nun, Deine Strukturen sind allerdings extrem komplex. Muss der Hörer eine Art von Verständnis für diese Strukturen haben, um so einen „erweiternden schwingungsmäßigen Effekt“ zu haben?

SC: Nein, es ist für mich überhaupt nicht wichtig, dass die Leute die Strukturen oder sonst irgendetwas von dem, was ich musikalisch mache, verstehen. Tatsächlich steht einem das gewöhnlich im Wege. Manchmal, wenn ich nach Europa komme, sagen mir Leute: „Ich verstehe deine Musik nicht.“ Es braucht kein Verstehen. Du wirst es nie so verstehen wie ich und das ist nicht wichtig. Das ist überhaupt keine große Sache. Ich werde es auch nie so wie du verstehen. Der Punkt ist, dass einige Musik einen dazu bringt nachzudenken, über die Natur der Dinge nachzudenken, denn das ist die Eigenschaft des Sounds. Die Sounds sind so zusammengestellt, dass sie eine Art erweiternden Effekt haben.

Interviewer: Ein „erweiternder Effekt“, was bedeutet das tatsächlich? Werden wir bessere Leute durch das Hören einer bestimmten Art von Musik?

S.C.: Ich würde nicht sagen „bessere Leute“. Aber ich kenne Leute, die diese Art von Musik hören und die schließlich begannen, mehr zu lesen, verschiedene Sachen auszuchecken, verschiedene Kulturen, alles mögliche Zeug. Und Musik bringt sie dazu … nun … sie bringt diese Arten von Tendenzen hervor, die vielleicht bereits da sind, es sind latente Tendenzen. Ich kenn das von bestimmter Musik Coltranes, die diesen Effekt auf mich hatte, als ich jung war, und sie hat ihn immer noch. Da gibt es keinen Zweifel. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Leute, die immer wieder gewisse Arten von Musik hören, verschlossen gegenüber Ideen werden, sogar verschlossen gegenüber dem Denken über solches Zeug. Es gibt Leute, die das absichtlich benutzen. Es gibt bestimmte Arten von Musik, die in einem Einkaufszentrum absichtlich gespielt werden. Es ist nicht einfach so, dass wir irgendeiner Musik ausgesetzt werden. Man kommt nicht hinein und hört Coltranes Ascension. Sie spielen bestimmte Sachen, denn sie haben all diese Musikpsychologen, die versuchen, einen in das zu versetzen, was sie als eine entspannte Stimmung ansehen. Was sie aber wirklich meinen, ist eine entspannte Roboter-Stimmung.

Interviewer: Ich denke, die meisten Musiker würden unterschreiben, was Du über das Ausbrechen aus der Roboter-Art sagst. Sie denken alle, wiederhole dich nicht selbst, steig aus deiner Routine aus. Und dennoch scheinst Du zu sagen, dass das immer noch nicht „Bewusstseinserweiterung“ ist.

SC: Genau. Man kann diese Art von Blickwinkel einnehmen, den Du soeben beschrieben hast, in vielen verschiedenen Richtungen. Allgemein gesprochen werden die meisten Musiker sagen, was Du eben sagst. Selbst die würden das sagen, von denen ich denke, dass sie sich wiederholen. Von ihrem Blickwinkel aus mögen sie sich nicht wiederholen, denn es gibt viele Arten, sich zu wiederholen. Was ich zu machen versuche, ist, ständig neue Wege zu erlernen, Dinge zu tun, und das zu internalisieren. Ich denke, dass das Wachstum meiner Musik von alleine eintritt, wenn ich in dieser allgemeinen Richtung in Bewegung bleibe. Mit anderen Worten: Es gibt gewisse Dinge, die große Anliegen sind, die ich nicht wirklich bewusst steuern kann. Aber die Logik ist folgende: Wenn ich weiterhin neue Dinge erlerne, weiterhin neue Wege erlerne, Dinge zu tun, und das tatsächlich bis zu dem Punkt internalisiere, wo es zur Gewohnheit wird, zu dem Punkt, wo ich nicht mehr darüber nachdenken muss, dann wird sich das in irgendeiner Weise auf meine Musik auswirken, je nach dem, welche Sachen ich studiere und warum ich sie studiere. Und dann gibt es den kreativen Akt, in dem man sich im jeweiligen Augenblick befindet, während man tatsächlich spielt. An manchen Tagen ist man kreativer als an anderen. An manchen Tagen ist man in der Lage, zu fließen und sich mit allem zu verbinden, an anderen Tagen kann man das nicht, und das gehört alles dazu.

Interviewer: So ist das tatsächlich ein Gedanke von Wachstum versus Stagnation.

SC: Genau. Aber der Punkt ist: Dieses Wachstum erfolgt auf einer mikroskopischen Ebene. Es gibt eine Menge von dem, was ich Mikrostruktur nenne. Und das ist etwas, was heute viele Leute gemeinsam haben. Das ist eines der Dinge, denen man nicht entkommt. Man kann sich dem nicht entziehen, aber ich wähle auch nicht, mich diesen Dingen zu entziehen. Ich nehme sie einfach in mich auf und sage: „Okay, lass uns nach einigen anderen Dingen umschauen.“ Und all diese kleinen Dinge, diese kleinen Mikrostrukturen … Man hat die Wahl, verschiedene Mikrostrukturen seinem Repertoire hinzuzufügen und sie seine Musik beeinflussen zu lassen oder einfach mit denselben mitzugehen. Leider sind bei den meisten Leuten die Hinzufügungen von Mikrostrukturen und wie sie Mikrostrukturen betrachten von vorneherein ziemlich begrenzt. Wenn ich es zum Beispiel bloß tonal betrachte, dann wird das begrenzt sein. Wenn ich überhaupt nicht auf den Rhythmus schaue, dann sehe ich bloß den Ton. Die meisten Leute haben nur eine Musiktheorie, die sich mit dem Tonmaterial befasst, sie haben gewöhnlich keine melodische Sache, strukturelle Sache oder rhythmische Sache. Sobald man aber diese Dinge sozusagen seinem Repertoire hinzufügt, beginnen sie deine Musik im Hinblick auf deine Entscheidungen zu beeinflussen, denn es ist wie ein Hinzufügen zur Sprache. In diesem Fall, ich benutze die Sprache als … ich spreche über die Struktur, denn was ist letztendlich der Unterschied zwischen Deutsch und Englisch? Mit anderen Worten, du und ich, wir können denselben Gedanken haben, selbst wenn Du nur Deutsch sprichst und ich nur Englisch. Der Gedanken wird durch die Kultur beeinflusst werden, wie es immer ist, er wird selbst von der Sprache beeinflusst werden, denn man kann Sprache und Kultur nicht voneinander trennen. Wie auch immer, schwingungsmäßig kann es derselbe Gedanke sein, auf verschiedene Weise ausgedrückt.

Interviewer: Ist es wirklich im Wesentlichen dennoch derselbe Gedanke?

SC: Ja, ich meine, es gibt Gemeinsamkeiten. Niemand hat genau denselben Gedanken, nicht einmal zwei Leute derselben Kultur. Aber wir kommunizieren in den Bereichen, die wir gemeinsam haben. Man braucht etwas, das einen zusammenbringt, das einem eine Basis bietet, auf der man aufbaut. Musik ist diese Basis. Ich habe mit Leuten gespielt, mit denen ich nicht sprechen kann.

Interviewer: Die Projekte, die ich kenne, wie Deine Zusammenarbeit mit AfroCuba de Matanzas, sind Dir in kultureller und musikalischer Hinsicht ziemlich nahe. Hast Du auch mit Leuten von Kulturen gespielt, die völlig unterschiedlich zu Deiner eigenen sind? Funktioniert die Musik dann noch als Basis?

SC: Was meinst Du mit völlig unterschiedlich? Ich habe mit Musikern in Afrika gespielt, ich hab mit Musikern in Brasilien gespielt, ich habe mit Musikern an verschiedenen Orten gespielt, mit denen ich nicht sprechen konnte. Aber ich könnte nicht sagen, dass wir nicht irgendetwas kulturell gemeinsam gehabt hätten. Selbst wenn es nichts anderes gewesen wäre, so war zumindest die Entscheidung, miteinander zu spielen, eine Verbindung.

Interviewer: Ich stimme dem zu, Kulturen sind nicht völlig verschieden, aber manche überlappen sich mehr als andere. Und ich frag mich, wie und ob musikalische Kommunikation funktioniert, wenn man tatsächlich sehr, sehr wenig gemeinsam hat.

SC: Ich reiste in den Süden von Indien und spielte mit diesen Mridangam [Perkussionsinstrument aus Südindien] Spielern; dieser Typ war ein indischer Top-Trommler. Nun hatte der Typ zum gesamten tonalen Teil meiner musikalischen Sprache keine richtige Beziehung. Er hatte gewiss nicht dieselbe Basis wie ich. Die Basis, auf der wir kommunizierten war hauptsächlich rhythmisch. Ich sage hauptsächlich, denn es gab einige Anpassungen, die ich melodisch für ihn machte, und ich bin mir sicher, es gab einige Anpassungen, die er machte. Und ich spielte mit süd-indischen Sängerinnen, karnatischen Sängerinnen. Interessant war, dass mich eines der Mädchen, mit denen ich spielte, über die Progression und die Auswahl der Sounds fragte, die ich verwendete. Es ist sogar schwer, das mit der Sprache zu beschreiben, denn – sie sprach zwar Englisch, das war nicht das Problem – aber sie hatte es einfach nicht in ihrem musikalischen Vokabular, um diese Frage zu stellen. Sie fragte sich, welche Art von Entscheidung ich traf, denn sie sang hauptsächlich in einer Raga und sie hörte mich gewissermaßen überall hingehen. Und sie sagte: „Gut, ich weiß, es gibt etwas, dem Du folgst, aber was ist es, was machst Du da?“ Und ich sagte: „Das ist keine einfache Frage, die ich beantworten kann.“ Denn wir hatten nicht die gemeinsame Sprache, die mir die Beantwortung der Frage ermöglicht hätte. Wenn du ein klassischer Musiker bist, dann gibt es etwas, das ich dazu verwenden kann, um eine Brücke zwischen dem, wo du bist, und dem, wo ich bin, zu bauen.

Interviewer: Es gibt gewisse musikalische Konzepte, die ziemlich universell sind. Wie weit hilft das als Grundstein?

SC: Zunächst einmal: Viele Konzepte, die Leute für universell halten, wie die Tonika, sind nicht universell, und es hat sie nicht immer gegeben. Die Dinge sind immer in einem Stadium der Veränderung, in einem Stadium des Fließens. Leider ist die Veränderung manchmal so allmählich, dass man es in seiner Lebenszeit nicht erkennen kann. Wenn man zum Beispiel altgriechische Musik studiert: Sie haben überhaupt kein Konzept von dem gehabt, was wir Tonika nennen. Aber ist gibt eine Art Konzept von Schwerkraft in der Musik, eine Anziehung, eine Struktur und all das. Das gibt es immer, denn das ist etwas, das außerhalb der Menschen besteht, das ist außerhalb unseres Entscheidungsprozesses. Es wird auf uns übertragen, könnte man sagen. Wenn ich also über Musik nachdenke, versuche ich zunehmend mehr in dieser universalen Art über Musik zu denken und zunehmend weniger in einer lokalen Weise. Das ermöglicht es mir, mit anderen Kulturen in Beziehung zu treten. Ich habe kein Problem damit, mit irgendwem zu spielen, von welcher Kultur auch immer, außer wenn jemand … Nun, ich denke, es hängt vom geistigen Rahmen ab, in dem ich mich befinde. Ich kann Probleme haben, selbst mit jemandem von hier zu spielen, wenn er in einer bestimmten Geisteshaltung ist. Mit anderen Worten, manche Leute glauben an das Bebop-Spielen und wenn man Bebop spielt, dann muss man dies und das machen. Es bereitet mir kein Vergnügen, mit dieser Art von Leuten zu spielen. Oder es gibt zum Beispiel Leute, die mich in der Vergangenheit für Pop-Aufnahmen anstellten und dann begannen, mir zu sagen, wie ich zu spielen hätte. Nun, das ist nicht mein Ding. „Kannst du es mehr wie Kenny G. spielen, Mann?“ Du verstehst, diese Art von Sachen. Das ist wirklich nicht mein Ding.

Interviewer: Im Ernst, Steve, ist das wirklich passiert? Ich meine, sicher, viele CD-Firmen sind einfach hinter dem Geld her und haben keinen Respekt vor einem Künstler. Aber ein CD-Produzent, der Steve Coleman ersucht, wie Kenny G. zu klingen, das klingt wie eine Karikatur.

SC: Ja sicher, das geschah oft. Es geschieht, wenn man sich selbst in diese Situation bringt, sagen wir es so. Und die Sache ist, man weiß nicht einmal, was man zu so einer Person sagen soll, denn wenn sie so etwas zu einem sagen, dann sagt einem das automatisch, dass man auf einer so unterschiedlichen Wellenlänge ist, dass man an so unterschiedlichen Orten ist, dass es fast so ist, als hätte man nichts gemeinsam. Ich hatte das gleiche Gespräch mit Sonny Rollins.

Interviewer: Sie wollten, dass auch er wie Kenny G. klingt?

SC: Nein, aber er erzählt mir von Dingen, die die Leute die ganze Zeit sagen. Und sie haben keine Ahnung, wer er ist und wie lange er das macht, was er macht. Man steigt zum Beispiel in ein Flugzeug und die Stewardess sagt: „Bist du ein Musiker? Ich liebe Musik. Was für eine Art von Musik spielst du?“ Wer diese Person ist und welche Art von Erfahrungen sie hat, bestimmt dann die Ebene der folgenden Unterhaltung. Ich versuche Wert darauf zu legen, einigen Leuten eventuell einige neue Ideen vorzustellen oder selbst neue Ideen vorgestellt zu erhalten. Wenn ich irgendetwas mit irgendjemandem diskutiere, egal ob ich ihn kenne oder nicht, so versuche ich, das Lernen zu einem Teil der Erfahrung zu machen. Egal ob ich jemandem einige neue Ideen vorstelle oder er mir.

Interviewer: Unterrichtest Du auch Dein Publikum?

SC: Nun, ich unterrichte sie nicht, aber ich würde sagen, man muss empfänglich sein, vor allem als Spieler. Ich muss über meine Musik in einer Weise denken, die sie verdaulich macht, sagen wir es so. Es kommen alle Arten von Leuten ins Konzert. Ich spiele ein Konzert für mich und für all diese Leute. Ich versuche in meinen Konzerten, es als gemeinsame Erfahrung zu verstehen. Ja, wir machen den Sound auf der Bühne, aber ich verstehe es gerne als eine Kommunion. Es kommuniziert nicht jeder auf derselben Ebene, gewiss nicht, aber der Punkt ist der, dass unsere Seelen mitschwingen. Das ist mein Konzept eines Konzertes. Man kann nicht wissen, was in den Köpfen der verschiedenen Leute vorgeht. Ich will es nicht wissen. Unmöglich. Jeder bringt seine eigene Erfahrung mit. Aber, was wir alle gemeinsam haben, das ist der Geist, das ist also die Sache, die mir am wichtigsten ist: Welche Wirkung hat der Sound auf den Geist?

Interviewer: Wenn das Publikum auf Dein Spiel in einer gewissen Weise reagiert, dann kann das umgekehrt eine Wirkung auf Dein Spiel haben. Geschieht das auf einer mehr allgemeinen geistigen Ebene oder geht das bis zu sehr detaillierten, genauen musikalischen Dingen?

SC: Es zieht sich durch alle Ebenen. Man muss aber darauf achten, dass es einen nicht auf einer – wie kann ich das sagen – auf einer vordergründigen Ebene beeinflusst. Wir haben einen Begriff, den wir „getting house“ nennen. Es ist für mich eine negative Sache. Es ist eine Art Entertainment-Sache, bei der man eine gewisse Wirkung anstrebt – und alle Musiker wissen, wie man das auf irgendeiner Ebene macht, aber manche Musiker spielen damit mehr als andere. Die Leute sind ziemlich leichtgläubig. Es gibt zum Beispiel gewisse Sachen, die ein Saxofonist macht, wie Zirkularatmung – das ist, worin Kenny G. gut ist: Man hält die Note über lange Zeit und letztlich gibt es immer einige Leute im Publikum, die sagen: „Toll, das ist unglaublich.“ Und sie beginnen zu kreischen und all das, und sie denken, das wäre eine wirklich große Sache, dass man diese eine Note über eine wirklich lange Zeit halten kann. Es ist in gewisser Weise ein Trick. Es gibt eine Menge solcher Art Tricks, für den einzelnen Musiker oder für die Gruppe. Ich mag solches Zeug nicht. Es ist wirklich allzu simpel und es ist wirklich einfach, das Publikum auf dieser Ebene zu manipulieren. Aber es kann einem eine Menge Geld bringen, wenn man es ins Extreme treibt. Es ist eigentlich das, was die Populärmusik macht. Sie spielt diese allzu simplen Dinge aus, die gewisse Reaktionen der Leute bewirken. Es ist wie bei Sängern, die Songs über Liebe singen. Das ist etwas, das immer ankommt, besonders bei Leuten, die sich auf einer sehr banalen Ebene mit dem Leben beschäftigen. Denn Geld und Liebe sind zwei Dinge, die die Leute immer betreffen werden. Oder Sex, sagen wir es so. Und wenn man sie also da trifft, auf dieser Ebene, mit der sie jeden Tag beschäftigt sind, dann wird man ein sehr großes Publikum haben.

Interviewer: Ironischerweise ist das eine Form, auf Allgemeingültigem aufzubauen.

SC: Ja, es ist egal, ob man aus Russland, Deutschlang, China oder woher auch immer kommt, das sind Dinge, mit denen man täglich zu tun hat. Man ist auf irgendeiner Art Ebene mit Sex beschäftigt, denn man ist menschlich. Diese Dinge sind also sehr profan. Nun, wenn man sich mit höheren Belangen befasst – höher ist nicht wirklich das richtige Wort: mit anderen Belangen, geistigen Belangen – dann wird deine Musik nicht wirklich populär sein. Ich bin mit Leuten im Studio gewesen, die dasitzen und versuchen herauszufinden, wie sie möglichst viele CDs verkaufen werden, während sie ihre Musik machen. Ich wähle, mich nicht viel darum zu kümmern, denn ich denke, wenn man sich zu viel um dieses Zeug kümmert, dann beginnt es einen zu beeinflussen. Aber das ist es, was Leute machen.

Interviewer:   Ist das nicht eine unfaire Betrachtung der populären Musik? Eine Menge von ihr ist mit ihrer Zugänglichkeit extrem bedeutend für sehr viele Leute und ich bin mir nicht sicher, ob sich diese Bedeutung nicht auf den mehr geistigen Bereich überträgt.

SC: Ich verstehe, worüber Du sprichst. Wir sprechen hier in weiten Bögen. Gewiss gibt es da alle Arten von Ebenen, nicht bloß die extremen Ebenen. Jeder muss selbst sein Mittel wählen, um es so zu sagen, wählen, auf was er abfährt. Was mich anbelangt, so kümmere ich mich um das Publikum und was es denkt, aber ich denke mehr auf dieser Kommunion-Ebene. Und ich denke weniger auf dieser Entertainment-Ebene und tanze nicht über die Bühne und mache einen Spagat wie Prince.

Interviewer: Wie ist das mit jemandem wie James Brown? Ich dachte, dass Maceo Parker, sein Altsaxofonist, einer Deiner frühen Einflüsse war.

SC: Ich habe immer James Brown gemocht. Es ist nicht so, dass ich keinen beachte, der auf der Entertainment-Ebene denkt. Zunächst einmal, man kann nicht alles machen. Wenn man versucht alles zu machen, dann wird dein Zeug schließlich schwach, denn man hat keine Wahl getroffen. Die Musik, die ich mag, ist eine Musik, die absolut einen Charakter hat und die Leute haben eindeutige Entscheidungen getroffen. Wenn mir danach ist, Beethoven zu hören – oder den Schatten von Beethoven, wie ich es nenne, also Leute, die heute Beethoven spielen – dann ist die Musik so großartig, dass sogar der Schatten großartig ist. So sehe ich das. Wenn ich also in der Stimmung bin, mir das anzuhören, dann gebe ich mir das. Wenn ich in der Stimmung für Public Enemy bin, dann gebe ich mir das. Ich denke nicht, dass beides dieselbe Sache ist, sondern man hat letzten Endes Musik, bei der sich Leute selbst ausdrücken, und Musik, die man aus anderen Gründen macht. Manche Leute spielen Musik, um Mädchen zu kriegen, manche spielen, um Geld zu kriegen. Es gibt alle möglichen Gründe, Musik zu spielen. Wenn Leute Musik spielen, um Mädchen oder bloß Geld zu kriegen, dann kann ich das in der Musik hören und ich mag das gewöhnlich nicht. Aber manchmal kann das vermischt sein mit anderen Gründen, wie Du sagst. Ich denke, es hängt von der Mischung ab. Aber schau, wenn ich zum Beispiel Bartoks Musik höre, dann werde ich überhaupt nicht diese Geldsache in der Musik hören.

Interviewer: Manche Musiker führen das einigermaßen elitäre Argument an, dass der höhere Bereich notwendigerweise weniger populär sei als der profanere, denn der höhere Bereich enthalte das Zerbrechen etablierter Formen. Das ist ziemlich das, was ich zuvor mit der Einstellung der europäischen Free-Jazzer gemeint habe. Aber dann ist das nicht das, was Du sagst. Deine Unterscheidung zwischen hoch und profan hat nichts mit der modernistischen Idee zu tun, internalisierte Gepflogenheiten zu brechen und stattdessen von einer absichtsvollen Ebene aus zu arbeiten. Aber wie genau balancierst Du beides aus – Gewohnheit und Absicht?

SC: Ein großer Teil des Improvisierens ist gelernte Antwort, man könnte sagen Reflexe. Man internalisiert Dinge bis zu dem Punkt, wo es zum Reflex wird. Sonst erreicht es kein hohes Niveau, ich kann Dir das definitiv sagen. Man braucht diese Sprache der Reflexe – im Grunde Dinge, mit denen man antwortet, was heißt, dass man eine gewisse Anzahl an Jahren lang spielen muss. Man muss gewisse Prinzipien bis zu dem Punkt internalisieren, wo die Dinge zur Reaktion werden. In diesem Sinne ist es nicht anders als beim Erlernen einer Kampfkunst, beim Erlernen des Basketballspielens oder irgendeiner anderen Fähigkeit. An der Spitze davon steht die Absicht, also all diese Dinge, von denen wir zuvor gesprochen haben, das, was man zu machen beabsichtigt, in welche Bereiche man sich bewegt. Was für mich am wichtigsten ist, ist das Repertoire an Antworten, das man hat, und wie sie in der Musik wirksam werden sollen. Eine Menge davon gründet darauf, was in deiner Zeit bereits entwickelt ist. Mit anderen Worten, Charlie Parker hätte ohne dem, was 20 Jahre vor seinem Spielen geschehen war, nie auf die Weise gespielt, wie er spielte. Er hätte nie diese Art von Antworten entwickelt. Er entwickelte diese Dinge durch das Hören der Typen, die er hörte – Lester Young und Coleman Hawkins und dann Don Byas usw. und Art Tatum und all diese Leute. Es gab bereits eine bestimmte Tradition und er baute darauf auf. Es ist nicht anders als das, was Isaac Newton machte, als er auf Kepler und Kopernikus und Galileo aufbaute. Und Einstein baute auf das auf, was Newton machte. Es ist dieselbe Sache. Wir haben also dieses kollektive Wissen, das von der Menschheit weitergegeben worden ist, und es wird an gewissen Orten kultiviert und ausgedrückt und dann wird man in diese Situation geboren. Wenn man diese Dinge nicht lernt, dann ist man kein richtiger Improvisator oder was immer, Schmied, Theoretiker, Physiker, was auch immer.

Interviewer: Wenn wir so in der Schuld der Vorläufer stehen, so ist es doch unsere Aufgabe, diese Leute zu unseren Vorläufern zu machen. Aber um das zu tun, scheint es mehr zu brauchen, als bloß ihre Musik zu studieren und durch endlose Wiederholung zu verinnerlichen.

SC: Das ist der Grund dafür, dass ich – wenn ich Musiker studiere – versuche, ihre Lebensverhältnisse zu studieren, was und wie sie gelernt haben. Was für mich wirklich wichtig ist, das ist der Prozess, wie sie lernten, was sie gelernt haben. Ich meine den Prozess, den sie durchlaufen haben. Denn dieser Prozess verinnerlicht Dinge. Durch etwas gehen, es erfahren, das ist es, was bewirkt, dass man es tiefer verinnerlicht. Es geht nicht darum, welche Bücher man liest oder von welcher Theorie man denkt, dass man sie lernen möchte. Es geht um den Prozess, in dem man es erlebt.

Interviewer: In den Geisteswissenschaften reden die Leute zurzeit eine Menge über „embodied“ Erfahrung. [Embodiment ist eine These aus der neueren Kognitionswissenschaft, nach der Intelligenz einen Körper benötigt, also eine physikalische Interaktion voraussetzt. Diese Auffassung ist der klassischen Interpretation der Intelligenz als Computation diametral entgegengesetzt und wird als grundlegende Wende in der Kognitionswissenschaft angesehen. Wikipedia] . Aber es gibt dazu ein gewisses Unbehagen. Was, wenn körperliche Internalisierung deine eigene freiwillige Unterwerfung meint? So beginnen einige Autoren dann zu behaupten, das die klassische Musik „schlecht“ sei, weil sie einen dazu bringe, eine „korrekte Technik“ zu internalisieren, was eine andere Art ist zu sagen, dass man ein Roboter wird, wohingegen Improvisation irgendwie „gut“ wäre, weil es da keine „korrekte Technik“ gibt und man so aus den Zwängen ausbräche, die angeblich unseren Körper beherrschen und festlegen. Und nun deutest Du an, dass der Improvisator nicht die Kontrolle über seine Reflexe hat, sobald er entschieden hat, welche Reflexe er internalisieren möchte.

SC: Es ist wahr, über die Mehrheit davon hat man keine Kontrolle. Die Dinge spielen sich sehr schnell ab. Wenn ich über die Elemente der Musik nachdenke, während ich spiele, dann spiele ich nicht besonders gut. Gelegentlich tauchen musikalische Gedanken auf, aber grundsätzlich denke ich mehr auf einer Metaphern-Art Ebene. Und die Elemente der Musik, die ich schwierig finde, kommen mir in den Sinn, wenn man sich mit diesen Schwierigkeiten auseinandersetzen muss. Es mag Momente geben, in denen man verloren ist, es mag gewisse tonale Kombinationen geben, die schwierig sind, und wenn man zu diesen Passagen kommt, dann muss man sich vielleicht mehr darauf konzentrieren. Aber insgesamt würde ich sagen, dass die meisten dieser Dinge internalisiert sind und wenn sie es nicht sind, dann versucht man, sie zum internalisierten Punkt zu bringen. So kann sich dein Geist mit dem beschäftigen, was ich höhere Themen nenne, eine höhere Hierarchiestufe an Themen. So wie ich viel über Schwingungen rede. Der Sound ist das Medium, mit dem ich arbeite, aber was ich zu sagen versuche, ist etwas anderes als Sound oder Sprache. Es ist … am treffendsten kann ich es so sagen: Es ist Schwingung, es ist die Idee von etwas, nicht so sehr eine physikalische Schwingung als die Idee von dem, was ich zu kommunizieren versuche oder über das ich zu sprechen versuche.

Interviewer: Ich muss sagen, das überrascht mich. Du löst die Idee vom Sound los und um es zu beschreiben, verwendest Du „Schwingung“, was so ein körperliches Konzept ist. Ich empfand es so, dass Improvisation eines dieser Dinge ist, bei denen Geist und Körper wirklich so eng miteinander verbunden sind.

SC: Du hast Schwingungen auf einer Menge verschiedener Ebenen. Wenn ich bloß einen Ton spiele, dann können wir über Schwingung in verschiedenen Aspekten dieses Tons sprechen. Wenn ich zwei Töne spiele, dann können wir über die Beziehung der Schwingungen zwischen diesen beiden Tönen reden. Dies zieht sich bis zur Ebene, über die ich gerade gesprochen habe. Um die Schwingung erfolgreich auf die letzte Ebene, die höhere Ebene zu bringen, muss man über die Schwingung auf den anderen Ebenen Bescheid wissen. Denn es ist alles miteinander verbunden, wie Du gerade gesagt hast. Es ist alles miteinander verbunden bis hinunter zu den Dingen, über die Du gesprochen hast: Schwingungen des Körpers, Schwingungen des Instruments, Schwingungen des Raums, jede Art von Schwingung auf jeder Art von denkbarer Ebene, das ganze Spektrum bis zur geistigen Schwingung. Wenn man also Kontrolle und ein Verstehen über seine ultimativen Dinge, die man zu vermitteln versucht, haben möchte, dann muss man alles von der anfänglichen Sound-Sache weg verstehen.

Interviewer: Nun, wenn Schwingung eine Art von Sprache ist, die grundlegender und auch weitgreifender ist als die verbale Sprache, dann besteht folgendes Problem: Wie erklärst Du Schwingung in der verbalen Sprache, zum Beispiel im Unterricht?  

SC: Es braucht Jahre, um diese Schwingungs-Sachen in verbaler Sprache zu erklären. Und es mag dann immer noch nicht funktionieren. Einmal fragte ich Von Freeman über seine Stimmführung in der Harmonie – er ist der Meister in diesem Zeug. Ich fragte ihn: „Wie hast du dieses Zeug gelernt? Du bist darin so gewandt.“ Und er sagte: „Nun, ich setzte mich eines Tages hin und sagte mir, lass mich diese Sache anschauen.“ Er sagte: „Ich begann mit einem Ton. Ich studierte einen Ton. Und ich studierte alles über diesen Ton, das ich studieren konnte.“ Wenn diese alten Typen sprechen, stellt man nicht zu viele Fragen. Man hört weitgehend einfach zu, was sie sagen. Und so wusste ich nicht, was er meinte, sondern hörte einfach zu. Und er sagte: „Ich arbeitete daran lange Zeit, Du verstehst, Monate lang. Einfach um zu sehen, was man mit einem Ton machen kann. Als ich mich darin recht gut fühlte, ging ich zu zwei Tönen weiter. Das war ein bisschen schwerer. Ich arbeitete viel länger daran, aber ich arbeitete und sah alles, was ich mit zwei Tönen machen konnte. Dann ging ich zu drei Tönen weiter und so weiter. Nachdem ich eine Weile so weitergemacht hatte, bemerkte ich, dass man mit zwei Tönen so ziemlich alles machen kann, was man braucht.“ Das ist es, was er mir sagte. Ich verbrachte Jahre damit, über dieses Zeug nachzudenken. Jahre. Ich denke immer noch darüber nach. Mir kommt vor, ich habe jetzt einen besseren Zugang zum Verstehen, was er gemeint hat, auch wenn es keine simple Sache ist, es auszudrücken. Und wenn ich diese Geschichte jemandem, der in meiner Gruppe spielt, oder sonst wem erzähle, dann fragen sie mich: „Was hat er gemeint?“ Es würde buchstäblich Jahre brauchen, um zu erklären, was ich denke, das er meinte. Und ich bin mir sicher, dass ich nur einen Teil von dem erfasst habe, was er meinte – was es für mich meint, gewisse Dinge, die man ihnen mit einer Million von Beispielen über lange Zeit erklären müsste. Die Bedeutung dämmert einer Person und wenn man es erklären muss, dann wird es komisch. Wir leben in dieser McDonalds-Art von Gesellschaft, wo jeder glaubt, alles sei einfach schnell. Es ist nicht so. Man muss das Verstehen tatsächlich aufbauen, langsam im Laufe der Zeit. So klingt diese Sache, die mir Von Freeman erklärte, wie eine sehr einfache Sache, aber in Wahrheit ergibt sie ohne die Erfahrung überhaupt keinen Sinn. Es ist vielleicht 15 Jahre her, dass er mir das sagte, und ich habe herausgefunden, dass es absolut wahr ist. Ich könnte es niemals an einem Tag erklären oder in einer einstündigen Vorlesung.

Interviewer: Charlie Parker sagte, man könne nicht mit Worten über Musik sprechen …

SC: … und das ist wahr. Aber auf einer anderen Ebene ist es das, womit wir Musiker uns zu beschäftigen haben, diese speziellen Themen. Und dieses Zeug wird dann auf einer anderen Schwingungsebene auf andere Leute übertragen. Das meine ich, wenn ich sage, dass es diese verschiedenen Ebenen der Schwingung gibt. Es wird auf einer anderen Ebene der Schwingung auf das Publikum übertragen. Sie beschäftigen sich nie mit dieser Ebene, sie brauchen das nie zu tun. Grundsätzlich ist Musik für mich ein Medium. Ein Musiker muss ein Architekt sein. Er muss dieses Medium verstehen und verstehen, wie man damit arbeitet.

Interviewer: Aber warum fühlt das Publikum überhaupt eine Schwingung, abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass Rhythmen und Grooves irgendwie ansteckend sind?

SC: Weil sie von derselben Schwingung beeinflusst sind wie ich. Das ist es, was man hört, wenn man hört, dass eine Gruppe beisammen ist. Man hört nicht vier oder fünf Leute, die dieselbe Sache verstehen, sie verstehen nie dieselbe Sache. Aber es gibt eine Art kollektiver Schwingung, die uns alle beeinflusst, die Leute im Publikum, die Leute auf der Bühne, und das ist wie eine Art Gesamtschwingung über der individuellen Schwingung jedes einzelnen. Es ist das verbindende Gewebe, das uns im Jetzt verbindet. Es ist ein Ausdruck des Charakters der Zeit durch uns. Es kann uns zusammenbringen. Ich empfinde es so, dass es das ist, mit dem ich arbeite, wenn ich Musik spiele. Das ist mein wahres Grundmaterial. Diese verbindende Schwingung. Ich muss herausfinden, wie ich das anzapfen kann und wie ich das durch den Sound verstärken kann. Das mag metaphysisch klingen, aber ich empfinde es wirklich so, dass es das ist, was ich zu machen versuche. Ich denke, es ist ein gutes Konzert, wenn das geschieht und jeder mit dieser Art der Erfahrung weggeht, die er nicht erklären kann, sich aber einfach verbunden fühlte, zumindest für diesen Moment.

Interviewer: Das Jazz-Publikum hat sich sehr verändert. Glaubst Du, dass es in den alten Zeiten leichter war, diese Verbindung durch Schwingung zu haben, als Jazz – ich weiß, Du verwendest diesen Ausdruck nicht, sagen wir also: – als dieses Idiom noch ein wichtiger Teil der schwarzen Kultur war?

SC: Es gab eine andere Basis. Damals, als schwarze Leute in diesem Land abgesondert waren, hatte diese Erfahrung mehr mit ihrer individuellen Erfahrung als Rasse in diesem Land zu tun. Es hatte mit dem natürlich zwangsläufig viel mehr zu tun, denn man spielte immer für schwarze Leute in allen schwarzen Situationen. Als ich aufwuchs, war das die Situation. Es war für mich eine schwere Zeit, als ich mich vom Spielen für ein völlig schwarzes Publikum in der South Side Chicagos umstellen musste auf ein Spielen einfach vor einem Publikum. Ich machte es, es war eine harte Zeit. Es begann in New York, aber als ich nach Europa kam, war es ein richtiger Schock.

Interviewer: Die Leute antworteten nicht in der Weise, wie Du es gewohnt warst?

SC: Ja, auf einer sehr simplen Ebene. Ich war es gewohnt, dass Leute sagten: „Hey, Baby, ja Mann, du spielst echt gut.“ Du verstehst, so nach dem Konzert reden und sich mitteilen. Ich war es nicht gewohnt, in einem Konzertsaal zu spielen, wo alle völlig still sind.

Interviewer: Im Vergleich zu Europa stelle ich generell fast immer eine größere Ausdruckskraft des amerikanischen Publikums fest. Sogar beim weißen Publikum.

SC: Du solltest einmal dorthin gehen, wo nur Schwarze sind. … Als ich zum ersten Mal nach New York kam, spielte ich nicht in der Innenstadt, denn ich konnte nicht. Niemand kannte mich und ich kannte auch keinen, ich war in keiner Band. So spielte ich meistens in Brooklyn und in Harlem oben und solchen Orten. Außerdem übersiedelte ich und hatte nicht das Geld, in einer anderen Nachbarschaft zu wohnen. Aber ich hätte zum Beispiel wählen können, in einer hispanischen Nachbarschaft zu leben. Aber das tat ich nicht. Ich ging dorthin, wo ich mich behaglicher fühlte. Demzufolge war das Publikum nicht wirklich so anders, als ich es in Chicago erlebt hatte. Als ich aber einen Gig bei Thad Jones und Mel Lewis hatte und wir zu reisen begannen und so weiter, und diese Band war halb weiß, halb schwarz, begann ich andere Sachen zu erleben. Ich begann zu merken, dass es große Unterschiede beim Publikum gab. Und ich erfuhr es als Musiker.

Interviewer: Um noch einmal auf das zurückzukommen, über das wir zuerst sprachen: Ich denke, das ist es, was Albert Murray im Sinn hatte, diese ganze Community-Sache, aus der Perspektive der schwarzen Community. Wenn er also über idiomatische Authentizität spricht … Er beschränkt sie nicht auf schwarz, aber diese Art von Erfahrung ist gewiss seine Prämisse und vielleicht genauso gut seine Utopie.

SC: Aber warum sollte jemand, der in dieser Situation ist, darüber überhaupt nachdenken? Da ist der Punkt, wo ich Albert Murray nicht folge. Mit anderen Worten: Das wird erst ein Thema, wenn man es jemandem erklärt, der es nicht versteht oder der außerhalb dieser Situation ist. Warum sollte Buddy Guy oder Junior Wells oder Muddy Waters oder B.B. King in dieser Situation überhaupt darüber nachdenken? Sie sind mit anderen Themen beschäftigt, die – so zu sagen – mehr „innerhalb“ [inside] sind als dieses Thema.

Interviewer: Somit ist es das Problem des Feldethnographen, der für seine Leserschaft Perspektiven entwerfen muss, die von den Perspektiven der Leute, bei denen er sich aufhält, abweichen?

SC: Es ist wie das Erklären afrikanischer Musik, west-afrikanischer Musik. Die ersten Leute, die über west-afrikanische Musik schrieben, waren Europäer. Was für einen Sinn sollte es für die Afrikaner selbst machen, darüber zu schreiben? Sie haben es einfach gemacht. Als Afrikaner zu reisen begannen und mit Universitäten in Verbindung kamen und zu lehren hatten und so weiter … Es ist eine seltsame Sache: Sie waren beim Schreiben über ihr eigenes Zeug von den westlichen Musikwissenschaftlern beeinflusst. Man sieht das bei Leuten wie Nketia und Willie Anku und einigen dieser west-afrikanischen Professoren, die über ihre eigene Musik schreiben. Man kann den Einfluss sehen. Sie strukturieren die Dinge in einer bestimmten Weise, sie haben es gelernt, wie sie ihre Referenzen auflisten und all dieses Zeug. Sie können aus einer anderen Perspektive sehen, denn sie sind, wer sie sind, und sie können diese Perspektive in das Schreiben einbringen, aber die Form, in der sie schreiben, folgt weiterhin der so genannten wissenschaftlichen Form, dem europäischen Format. Und hauptsächlich besteht ihre Leserschaft aus Europäern oder weißen Leuten hier. Es ist nicht so, dass Afrikaner ihr Zeug aufgreifen und es lesen – also nicht Leute, die in den Prozess involviert sind, nicht jemand von einem Stamm irgendwo. Ihre Angehörigen, mit anderen Worten, die Leute, über die sie schreiben, leben einfach diese Erfahrung und beschäftigen sich außerhalb dessen, was in dieser Situation erforderlich und anerkannt ist, nicht mit – wie Albert Murray es nennt – idiomatischen Gesten.

Interviewer: Als Du also in Chicago mit dem Spielen begonnen hattest, was waren da die Insider-Themen?

SC: Als ich aufwuchs und in Von Freemans Sessions spielte, gab es bestimmte Dinge, die wichtig waren. Dein Sound, dein Groove und wie du dich selbst ausdrückst. Albert Murray kann das als idiomatischen Ausdruck interpretieren, aber es kommt wirklich darauf an, wenn man arbeiten will, wenn man teilnehmen will. Es gab ständig diese Kritik daran, dass man keinen Sound hat, keinen guten Groove, eine Menge Kritik am Rhythmus: Dieser Typ kann nicht swingen, er hat kein Feeling usw.. Es ist also keine intellektualisierte Sache, es ist einfach eine Frage des Lernens dieses speziellen Idioms von diesen Meistern, die vor einem kamen. Man muss mitkriegen, was es ist, das sie gut ausdrücken können. Wie man erreicht, dass es sich in einer bestimmten Weise anfühlt, wie man verbindet, wie man swingt. Man hört die Typen über das Gleiten [floating] des Rhythmus, das Swingen des Rhythmus und all diese verschiedenen Begriffe reden. Man muss das mitkriegen. Nicht als ein Schreiber, nicht in der Weise, wie man es jemandem erklärt, sondern einfach um ein Mitwirkender zu sein.  

Interviewer: Die meisten Musiker, mit denen ich gesprochen habe, verpackten ihre Geschichte in ein grundlegendes Handlungsschema. Als sie begannen, war das genau, was sie zu tun hatten, die Sprache lernen, um ein akzeptiertes Mitglied zu werden. Aber sobald sie diesen Punkt erreicht hatten, wollten sie mehr ein reifer Künstler werden und versuchten, ihre eigene Sache zu entwickeln – so kümmerten sie sich weniger um idiomatische Regeln.

SC: Ich stimme dem nicht zu, denn ich denke, dass man auch dann, wenn man ein so genannter reifer Künstler wird, noch Normen folgt. Es wurde gezeigt, wie man das macht. Wenn ich über Kreativität spreche, dann gibt es bestimmte kreative Leute, die ich immer daherbringe. Es gibt gewisse Leute, die mein Maßstab sind, mein Bezugspunkt. Auch bei dem, was Du gerade beschrieben hast. Es gibt eine Tradition der Kreativität. Deshalb sind die, die sich dazu entscheiden, kreativ zu sein, von dieser Tradition beeinflusst. Sie entscheiden sich nicht einfach, weil sie sich eines Tages als Einzelner dazu entscheiden. Man erhält eine Idee von anderen Leuten, die das gemacht haben, – selbst dazu, das überhaupt erst zu machen. Für alles, worüber ich mit Dir spreche, gibt es Beispiele von Leuten, die es gemacht haben. Ich weiß das, ich hab mir diese Beispiele angesehen, ich bin diesen Beispielen gefolgt. Ich hab sie studiert. Ich habe meine hybride Version von diesen Beispielen, denn ich bring sie in mir alle zusammen und mit dem, was ich mag. Man muss wählen, welcher Tradition man folgen wird. Okay, ja, man hat diese Sache, wie Du gesagt hast, wenn man anfangs in diese Kultur kommt und sich bemüht, akzeptiert zu werden, und an einem gewissen Punkt entscheidet man sich zu dem, was ich spezialisieren nenne oder sich auf gewisse Elemente konzentrieren. Aber man hat weiterhin diese Normen von dem, was Leute vor einem aufgestellt haben. Ich mag es nicht, wenn Leute so reden, als würden sie bloß diese Entscheidung treffen, die völlig unabhängig und persönlich wäre. Sie ist es nicht. Sie ist von Dingen beeinflusst. Sie mag selten sein, sie mag nicht das sein, wohin alle gehen oder wohin die meisten Leute gehen, aber trotzdem gibt es eine Menge, was aufgebaut wurde, an das man nicht einmal denken würde, wenn diese Leute es nicht vor einem getan hätten.

Interviewer: Du meinst also, dass die Idee des Herausragens denen nachgebildet ist, die in der Vergangenheit herausragten?

SC: Ja, diese Dinge haben auch Muster. Es geht immer darum, einen Beitrag zu leisten, so sehe ich das. Als Charlie Parker eine bestimmte Sache in seiner Musik machte, machte er einen Beitrag – auf den dann eine Menge Leute aufbauten. Ein Musiker kann wählen, auf diese Weise einen Beitrag zu machen. Das war die bewusste Wahl von Charlie Parker oder Coltrane, was das betrifft. Es war nicht bloß unbewusst. Es war die Art, wie sie es empfanden, aber sie wussten, was sie machten. Coltrane und den anderen war sehr wohl bewusst, dass sie in einer speziellen Bruderschaft waren. Sie sprachen auch darüber; sie sprachen davon, Teil der kreativen Sache zu sein, die damals geschah. So kann ich heute sagen: „Hier ist mein Beitrag.“ Ich hab nicht das Niveau des Beitrages zu beurteilen oder welche Wirkung er haben wird. Das ist völlig außerhalb von mir, jenseits meines Einflussbereiches. Die einzige Sache in meinem Einflussbereich ist, dass ich mein Bestes dafür tun kann, einzuhaken – wie wir sagen – und ins kalte Wasser zu springen – und es bewirkt, was es bewirkt.

Interviewer: Ein interessantes, typisches Beispiel dafür ist Sonny Stitt. Er wird nach wie vor von manchen als so etwas wie ein Epigone angesehen.

SC: Ich habe eine Art ganz besonderer Beziehung zu Sonny Stitt. Zunächst einmal: Ich kannte Sonny Stitt.

Interviewer: Ich hab gehört, dass Du …

SC: … Ja, ich bin ihm ziemlich viel nachgerannt. Er war wahrscheinlich der erste Musiker auf diesem Niveau, den ich tatsächlich kannte, mit dem ich persönlichen Kontakt hatte. Wenn ich sage, auf diesem Niveau, dann betrachte ich Sonny Stitt wirklich als einen … einen dieser Cats, wie wir sagen würden – um von Cats wie Sonny Rollins, Coltrane, Bird zu sprechen. Für mich war er einer dieser Typen. Er war definitiv auf diesem höheren Rang der Musiker – absolut – neben all denen – er improvisierte auf demselben Niveau. Als ich ihn traf, bemerkte ich das natürlich, und ich kannte ihn von Aufnahmen. Natürlich hörte ich die Ähnlichkeiten mit Parker und all dieses Zeug. Für mich war das – vor allem damals – überhaupt nicht wichtig. Wichtig war, dass er auf diesem wirklich hohen Niveau oben war. Und ich war es nicht. Er war genau dort neben all diesen Typen in dieser Musik aus der Vergangenheit, Du verstehst. Sonny Stitt wurde 1924 geboren, Charlie Parker 1920, das macht sie praktisch zu Zeitgenossen. Das war also der erste Grund dafür, dass ich Sonny Stitt nachgerannt bin. Er war so viel in Chicago, dass ich dachte, er lebt da. Er reiste viel, denn Leute in Detroit sagten mir dasselbe. Sie glaubten, er lebe in Detroit. Immer, wenn er in der Stadt war, bin ich ihm gefolgt. Ich habe Tonnen von Geschichten über ihn, wie ich wirklich früh morgens in seinem Hotelzimmer war. Er war ein Lehrer. Nicht im Sinne eines Lehrers vom Berkeley-Universitäts-Typ, aber er erzählte immer jungen Typen Geschichten und sprach zu ihnen über das Saxofon und alle möglichen Sachen. Die wichtigste Art, von ihm zu lernen, war jedoch, ihm zuzuschauen. Natürlich gibt es Aufnahmen, aber ihm zuzuschauen, war für mich kein Vergleich zu den Aufnahmen. Ich meine, der Typ war ein wirklich echt vollkommener Musiker.

Interviewer: Konntest Du mit ihm spielen?

SC: Ich spielte oft mit ihm, ja. Oder ich kann nicht wirklich sagen, dass ich mit ihm gespielt habe, denn er war auf einem Niveau und ich auf einem anderen. Aber er war es, der mir als Erster die Dinge zeigte, die ich zusammenbringen musste. Es gab gewisse Dinge, die er machte, die waren automatisiert. Er hätte sie im Schlaf machen können. Beinahe. Dieser Typ hatte diesen Teil seines Spiels so drauf, dass mir klar wurde, dass ich das erreichen musste. Später in meinem Leben wurde ich mit seiner Tochter gut befreundet. Das ist noch nicht so lange her, etwa in den letzten 10 Jahren. Sie begann, mir eine Menge Geschichten zu erzählen, und ich erzählte ihr Geschichten über ihn aus meiner Perspektive. Sie ist fast gleich alt wie ich und sie erzählte mir all die Geschichten über das Aufwachsen und was er zu Hause tat und all dieses Zeug – wie er gewöhnlich ständig übte, gewisse Dinge. Das füllte bestimmte Lücken meiner Informationen über ihn. Denn sie hat gute Ohren, aber sie ist keine Musikerin. Manchmal legten wir Platten von Sonny Stitt auf, manchmal Platten von Sonny Stitt und Charlie Parker und ich sprach darüber, was nach meiner Meinung die Unterschiede und Ähnlichkeiten waren und so weiter. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass er einen großen Einfluss auf mein Leben hatte. Es geschah durch Sonny Stitt, dass ich Von Freeman traf. Als ich Von zum ersten Mal sah, gab er eine Doppelvorstellung mit Sonny Stitt. Es ist eine sehr enge Beziehung zu ihm in dem Sinne, dass er der Experte oder die Person auf diesem Niveau war, die gewissermaßen als erste versuchte, die Türe für mich zu öffnen. Natürlich konnte er nichts für mich hinsichtlich des Übens tun, das musste ich tun. Aber er hat mir Dinge gesagt.

Interviewer: Waren diese leichter zu erfassen als das, was Von Dir sagte?

SC: Nein. Wenn ich Dir von ihnen erzählen würde, würde es nicht viel Sinn machen. Er sagte mir etwa: „Komm her Bub. Was ist eine ganze Note?“ Und ich sagte: „Eine ganze Note, ahhh, eine ganze Note ist eine Note, die vier Beats andauert.“ „Nein!“ Was immer ich sagte, er sagte: „Nein!“. Schließlich sagte er: „Okay, was ist eine ganze Note? – Sie ist ein Kreis mit einem freien Raum darinnen.“ Er machte solche Sachen die ganze Zeit. Das Lustige daran ist, dass ich jetzt, wo ich älter bin, genau die gleiche Auffassung habe. Denn im Grunde genommen sagte er nichts anderes, als dass sie bloß dieses Notationszeichen ist. Und das ist sie. Sie hat nichts mit Musik zu tun, sie ist ein Symbol. Das ist es, was er sagte. Ich dachte damals, er wäre witzig, aber in seiner eigenen Weise sagte er dasselbe Zeug, das ich heute den Leuten sage. Er war sehr roh hinsichtlich seiner Informationen. Er sagte mir, dass er gut in Mathematik sei, und verwendete eine Menge Zahlen in der Musik. Ich konnte das in seinem Spiel hören. Damit meine ich, ich konnte den hohen Grad von Struktur hören. Ich konnte gewissermaßen die numerische Sache hören – nicht in einer steifen Weise, sondern einfach, dass er diese Beziehungen drauf hatte. Er war einer der ersten Personen, die ich hörte, die in allen Tonarten wirklich flüssig spielen konnten und all dieses Zeug. Ich sah eine Menge unglaublicher Sachen.

Interviewer: Wie zum Beispiel?

SC: Ich erzähl Dir eine Geschichte, die ich mit ihm sah: Es gab in Chicago einen Saxofonisten, Guido Sinclair. Normalerweise haben lokale Saxofonisten bestimmte Dinge, die sie wirklich gut können. Aber sie sind nicht wirklich sehr breit angelegt. Ich meine, üblicherweise. Es gibt gewöhnlich – so zu sagen – einen Grund dafür, warum sie lokal sind. Aber dieser Typ hatte gewisse Tonarten, in denen er wirklich echt flüssig spielen konnte. Er hatte diese gewissen kleinen Phrasen und solche Dinge. Er hielt seine Finger sehr nahe an den Klappen, es sah aus, als würden sich seine Finger nicht bewegen. Einmal sah ich ihn mit Stitt. Da peitschte er über den ganzen Platz. Stitt war eine Art Gladiator-Typ. So spielten sie und dieser Typ peitschte über den ganzen Platz. Stitt sah also, was ablief, und er analysierte die Situation. Und als nächstes Stück sagte er einfach etwas an, von dem er wusste, dass der Typ darüber nicht spielen konnte. Er kannte den Typen gar nicht richtig gut, aber er wusste durch das Zuhören, durch die Art, wie der Typ spielte, dass er damit nicht umgehen konnte. So sagte er ein Stück an, das zwar ein normales Stück war, aber er legte richtig schnell los in einer Tonart, von der er wusste, dass der Typ damit nicht zu Recht kommen wird. Der Typ scheiterte. Auf einmal kam die Geschwindigkeit und alles zum kompletten Abbruch. Und Stitt war weiterhin in der Lage, all dieses Zeug zu machen. Du verstehst, denn er hat dieses Zeug geübt. Ich saß also da und beobachtete das, wie er diesen Typen gewissermaßen zerlegte, und ich dachte mir gleichzeitig, okay, ich muss meine Tonarten auf die Reihe kriegen. Denn man kann sich nicht so in Verlegenheit bringen. Stitt zerstörte diesen Typen in der Öffentlichkeit. Und er sah auf den Typen wie: „Ah Hah, wo ist jetzt all die Geschwindigkeit?“ Es war sehr interessant, denn ich sah, wie er ein vollkommenerer Musiker war. Eine Menge einfacher Lektionen wie diese, aber sie gingen mir lange nach. Es waren Sachen des Handwerks – hoch oben im Handwerk der Musik. So war Sonny Stitt für mich ein fantastischer Musiker, der auf seiner Zeit aufbaute und im Idiom seiner Zeit spielte. Und er war darin einer der Besseren. Er spielte mit dem Material, das in dieser Zeit verfügbar war. Es war eine neue Sprache, als er aufgekommen war, und er wurde in dieser neuen Sprache sehr gut. Er war einer der Leute, der zeigte, wie man sich selbst in dieser neuen Sprache ausdrücken konnte. Mit anderen Worten, er trug dazu etwas bei. Und als Bird über ihn sprach, sagte Bird, dass Sonny Stitt ein fantastischer Musiker sei. Das war alles, was er zu sagen hatte. Ich meine, Sonny Stitt, Charlie Parker, Don Byas, das waren die Typen und sie waren alle fantastisch. Fantastische Musiker. Ich denke, es ist die Presse, die einen wie Charlie Parker nimmt und ihn zum Führer von dem macht, was sie als eine Bewegung wahrnimmt. Und das machen sie immer so.  

Interviewer: Das machten sie mit Dir.

SC: Sie machten das mit mir mit der M-Base-Sache. Sie machen immer diese Art Sache und sie ist nicht wahr. Charlie Parker ging nach New York und wenn ihn die Leute fragten: „Warum bist du nach New York gegangen?“, dann sagte er: „Es gab einige sehr avancierte Sachen, die in New York vor sich gingen, und ich wollte dabei sein, wollte ein Teil von dem sein.“ Das erzählt für mich die Geschichte. Es ist alles eine große Sprache und es geht nicht um einen bestimmten Typen, der mit der Fahne vorangeht. Sie alle leisten einen Beitrag und was ich über Sonny Stitt zu sagen habe, ist, dass er einer der Typen war, der so einen Beitrag leistete, egal ob Kritiker den Beitrag erkennen oder sonst wer den Beitrag erkennt, denn eine Menge Leute erkennen ihn nicht.

Interviewer: Nach dem, was Du sagst, ist es nicht nur ein Sprachpool, in den man seinen Beitrag einbringt, und dann ist der Pool offen für jeden, um einfach hineinzuspringen und als Improvisator herauszukommen. Es scheint, dass man für die Aneignung der Sprache tiefe persönliche Verbindungen braucht.

SC: Ja, und Du siehst, die Verbindung geht weiter, es ist wie eine Kette. Sonny Stitt, Von Freeman, diese Typen waren meine Verbindung zu dieser Zeit. Denn ich kannte sie persönlich. Und sie machten Aufnahmen, die für mich durch die Tatsache, dass ich sie persönlich kannte, eine Menge mehr Sinn machen. Was ich von Sonny Stitt und Von Freeman erhielt, versucht vielleicht jemand anderer von mir zu erhalten. Für Jonathan [Finlayson, der Trompeter, der derzeit in Steve Colemans Band spielt] mag ich die Verbindung sein. Es wird weitergegeben. Aber es verändert sich natürlich. Es wird nicht einfach genauso weitergegeben.

Interviewer: Was weitergegeben wird, scheint mehr zu sein als ein Beitrag des Sounds. Was ist es, das nicht in den Aufnahmen steckt oder das man in den Aufnahmen nur hört, wenn man diese Verbindung hat?

SC: Ich gebe Dir ein Beispiel: Einmal ging ich zu Stitts Hotelzimmer und ich hatte mein Saxofon mit. Der Typ wachte gerade auf. Er hatte all diesen Wodka getrunken und hatte schlechten Atem usw.. Er sagte: „Gib mir mein Horn, Bub!“ Und ich dachte: Oh, oh, wird dieser Typ mein Horn spielen? So nahm er mein Horn, das ein Studenten-Horn mit einem Studenten-Mundstück war, was wir „stock reed“ nennen. Das ist einfach jedes alte Rohrblatt. Ich war ziemlich arm und so war es kein besonderes. Aber er nahm mein Horn und begann es zu spielen. Und er klang GENAU wie Sonny Stitt. Er begann einen Song zu spielen, er spielte nichts von der Originalmelodie, aber ich wusste, welchen Song er spielte. Man konnte die ganze Rhythmusgruppe und alles hören. Mein Vater sagte immer, die Typen klingen, als hätten sie eine Trommel im Horn, sie hatten so ein starkes Timing. Alles war da und dieser Kerl war gerade aufgewacht. Schon allein von dem lernte ich so viel, einfach indem ich dasaß und ihm zuhörte. Ich sagte: „Okay, erst einmal ist es nicht das Horn.“ Als er mir das Horn zurückgab, war es wieder nichts mehr. Klavier, Saxofon, Synthesizer, such dir eines aus. Ein Typ, der mit mir spielt, Grégoire Maret, spielt Mundharmonika. Mundharmonika! Es ist nicht das Instrument. Wenn sich Leute auf das Instrument ausreden, sage ich: „Du stolperst einfach, es hat nichts mit dem Instrument zu tun.“ Es ist alles in der Person. Zweitens, man konnte die ganze Band hören, als Stitt spielte. Er spielte diese Melodielinien, aber man konnte alles hören. Man konnte die Akkorde hören, den Rhythmus, man konnte hören, was es für ein Song war, ohne dass er die Melodie spielte. Ich meine, er war wirklich echt fix und wirklich echt stark. Und das hat nichts mit Stil zu tun. Es ist eine bestimmte Sicherheit. Das ist es, wo ich mir vorstelle, dass Bird war, wo Bach war, all diese Typen, sie waren so fix.

Interviewer: Die Bedeutung der persönlichen Verbindung ist für mich verblüffend. Denn das könnte zur verbalen Sprache als einer Erweiterung der Gestik zurückführen, wie Du gesagt hast. So ist das, was ein Student von einem wie Stitt aufnimmt, nicht nur das, was es heißt, als Spieler fix zu sein, sondern auch, eine starke persönliche Verbindung zu haben. Was übertragen wird, ist so etwas wie eine ganze Lebensweise.

SC: Ich werde Dir über ein zwei Stunden langes Telefongespräch erzählen, das ich unlängst mit Sonny Rollins hatte: Er hat eigentlich gar nicht so viel über Musik geredet. Er ist gerade sehr am Umfeld interessiert. Doch verbinde ich alles, was jemand sagt, damit, wer er ist, und alles, was einer spielt, damit, wer er ist. Einfach mit ihm zu sprechen, war für mich daher, wie mit ihm über Musik zu sprechen. Tatsächlich war es, wie ihn spielen zu hören. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, denn diese Typen sprechen in einer bestimmten Art und diese Art ist in ihrem Spiel und in dem, wer sie sind. Es ist einfach eine Art des Seins. Es ist anders als bei einem Philosophen, denn – wie ich sagte – Philosophen denken über die Dinge im Sinne der Theorie von etwas. Und das ist großartig, es gibt einige großartige Theoretiker. Aber die Theorie von etwas und das tatsächliche Tun sind verschiedene Dinge.

Interviewer: Ich merke, dass Du am Weg bist, zurückzukommen zu dem …

SC: Ich lernte durch meine Erfahrung in Berkeley. Wenn ich mir die Fakultät dort anschaue: Wenn man Leute hat, die über diese Dinge reden, aber nicht spielen oder nicht gut spielen können, dann häuft sich ziemlich schnell Mist an. Ich achte auf die Dinge, die in praktischer Hinsicht für mich nützlich sind und das kann tatsächlich in der Musik dargestellt sein. Es gibt jetzt eine Menge Leute, die schreiben und selbst Musiker sind, und das ist gut, das ist ein guter Trend. Wie ich zuvor sagte, es gibt eine Tradition des Denkens über Musik, die sich ziemlich wenig um die eigentliche Musik kümmert, und diese Tradition reicht weit zurück. Es gab eine Menge Musiker in der Zeit des alten Griechenlands, die sich für die Theorien über dieses Zeug interessierten, und einige von ihnen respektierten die Musiker nicht einmal. Sie dachten, dass das Spielen der Musik irrelevant wäre. Worauf es ankam, war, darüber in dieser kosmischen Weise zu denken. Aber dann gab es diese eine Person, dessen Schriften wir haben, sein Name ist Aristoxenus. Er war ein Student von Aristoteles, der ein Student von Plato war. Er war auf der Akademie von Aristoteles und als Aristoteles starb, dachte Aristoxenus, dass er der Leiter der Akademie hätte werden sollen. Egal, dieser Typ war einer der Typen, der sich völlig gegen die Tradition richtete, über die die anderen Philosophen sprachen. Er dachte, dass es nicht die Theorie über die Dinge und ihre Verbindung zu Zahlen und zur Wissenschaft ist, was wichtig ist. Er sagte, was wichtig ist, das ist der Sound und die Musik selbst, und das Ohr sollte der einzige Richter darüber sein. Er war in der Auseinandersetzung mit dem Zeug bezüglich des Sounds so engagiert, dass er eine ganze Denkschule begründete. So gibt es jetzt zwei Schulen: die pythagoreische Denkweise und dann die von Aristoxenus. Ich sehe eigentlich einen Wert in beiden Arten, aber als Musiker kann ich mich vor allem mit dem identifizieren, von dem Aristoxenus gesprochen hat. Wenn es nicht in der tatsächlichen praktischen Situation dargestellt wird, so hat es für mich wenig Wert. Bloß pure Theorie, das ist für mich nicht gut genug.

Interviewer: Denn es lässt das Erleben aus?

SC: Ja, es geht um das Erleben. Und deine Ebene des Erlebens macht einen Unterschied in dem, worüber man dann redet. Wenn man eine Person wie [Jascha] Heifetz oder [Vladimir] Horowitz nimmt, dann sprechen sie von einer bestimmten Ebene der Erfahrung aus. Sie beschäftigen sich mit einer anderen Sache als jemand, der einfach eine Hochschule für Aufbaustudien absolvierte. Ich sag nicht, dass alles, was diese Typen sagen, richtig ist, aber es beruht grundsätzlich auf einer großen Menge an Erfahrung. Wenn mir Sonny Rollins etwas über Improvisation sagt, dann werde ich zuhören, denn dieser Meister ist in dem drinnen. Ich habe bereits dasselbe über Sonny Stitt gesagt. Ich hing an jedem Wort, das er sagte. Er sagt irgendein Zeug und ich höre ihm zu. Und in unserem Bereich haben wir Leute, die versuchen Musiker zu werden – Leute wie Stanley Crouch, Peter Watrous. Diese Leute haben versucht, Musiker zu werden und haben es nicht geschafft. Und dann begannen sie zu schreiben und allen anderen zu erzählen, wer gut spielt und wer nicht. Wenn man selbst nicht eine Ebene erreicht hat, auf der man gut spielen kann, dann weiß man vielleicht nicht wirklich allzu viel über das Spielen Bescheid. Es geht nicht bloß um Talent, es geht auch um die Perspektiven. Ein Typ, der selbst nicht swingen kann, dir nun aber erzählt, wer swingt und wer nicht … da ist etwas falsch daran.

Interviewer: Findest Du, dass die Kritik Deiner Musik immer gerecht geworden ist?

SC: Die gefährliche Sache ist: Sie versuchen tatsächlich die Musik zu besprechen, diese Typen. Man sollte es überhaupt besser vermeiden zu versuchen, Musik zu besprechen, und einfach darüber reden, wie man sie empfindet. Ich habe noch nie eine Besprechung meiner Musik gesehen, die irgendetwas besprach, das tatsächlich geschehen war – wenn sie versuchten, über die Musik in technischer Hinsicht zu sprechen. Kein einziges Mal.

 

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  1. Original auf Steve Colemans Internetseite, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/

 

 

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