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Steve Coleman Interview, Anfang 2008

Anil Prasad, Steve Coleman. Digging deep1)
Eigene Übersetzung

 

Interviewer: Was treibt dich dazu an, dich so eingehend mit den Ursprüngen der Musik zu beschäftigen, die du erforscht?

Steve Coleman: Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Musik wir selbst ist. Nimm die Menschen von diesem Planeten weg und es gibt keine Musik, keine Diskussion über Musik und keinen organisierten Klang, den irgendwer (wenn er ein Mensch ist) Musik nennen würde. Musik ist also einfach ein Abbild von uns. Sich in die Ursprünge der Musik zu vertiefen, heißt, sich in die Ursprünge der Menschen zu vertiefen, in die Menschlichkeit und Menschheit. Ich würde gerne das Wort „man“ (Mann) vermeiden, aber es steckt in all diesen Wörtern [human, humanity, mankind]. Vielleicht kann man stattdessen einfach das Wort „Leute“ verwenden. Wenn man das Wesen der Leute erforscht, kann man das Wesen und die Ursprünge der Musik finden. Das Wesen von all dem Zeug, das wir kreieren, ist in unserem Inneren – all diese Symbole, ob es nun Sprache, Geld, Kreuze oder Korporationen sind. Wenn einem jemand erzählt, „ich erhielt diese Inspiration von einem brennenden Busch“ oder „dies kam von Allah in meinen Kopf“, so sind das für mich alles Symbole. Ich glaube, es gibt da einige unerklärliche, inspirative Quellen draußen, aber es ist alles in uns verkabelt.

Einiges davon kann zurückverfolgt werden bis zur großen Kirchen-Teilung in die östliche und die westliche Kirche im Jahr 1054, die als „das große Schisma“ bezeichnet wird. Deshalb haben wir das östliche, orthodoxe Christentum und die westliche, römisch-katholische Kirche mit dem Papst, den jeder kennt. Bei der Teilung ging es um Politik, wie immer, aber der Vorwand, den sie verwendeten, betraf das Wesen von Jesus Christus. War Jesus ein Mensch oder der Sohn Gottes und damit ein göttliches Wesen? Die Ost-Kirche sagte, er war ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten, Entwicklungen [processes] und Einsichten. Die West-Kirche sagte, er war Gott, grundsätzlich, und dieser Gott hatte ein dreifaltiges Wesen, nämlich Vater, Sohn und heiliger Geist. Ich für mich glaube, dass das göttliche Wesen in jedem ist und dass es eine Frage des Erkennens ist - was im Grunde das ist, was die Ost-Kirche sagt.

Ich bin überhaupt eine von Natur aus wissbegierige Person. Eine der Fragen, die ich als kleines Kind stellte, war: „Was ist unser Wesen? Was sind wir?“ Ich brachte immer diese „Was wenn“-Fragen daher, wie: „Was, wenn wir nicht wirklich existieren?“ und „Was, wenn unsere gesamte Gesellschaft, unsere ganze Welt in den Gedanken eines Riesen ist oder der Traum von jemanden ist und wir alle einfach nur ein großer Teil dieser mentalen Prozesse sind?“ Ein anderer meiner Gedanken war: „Nichts existiert außer mir und deshalb entstand nichts von diesem Zeug, bevor ich entstand. Und wenn ich verschwinde, wird das ganze Zeug verschwinden. Es ist nur da, weil es in meinen Gedanken ist, und es existiert nicht außerhalb davon.“ Seit meiner Kindheit sehe ich mir Filme an, die mehr oder weniger auf dieser Art von Handlung, die ich zusammenphantasiert habe, beruhen, die mir aber im Blut liegen. Das Entscheidende daran ist meines Erachtens, dass alles, was ich mir als Kind ausdenken konnte, genauso gültig war wie all das, was Leute mir erzählten. Als ich in die Kirche ging, erzählten sie mir, „Moses tat dies“ und „Jesus tat das“ und ich hatte immer das Gefühl, dass diese Geschichten nicht gültiger waren als alles, was ich mir selbst ausdenken konnte, denn sie kamen alle vom selben Ort – von den Gedanken einer Person oder eines Kollektivs. Letztlich sind wir alle mehr oder weniger auf die gleiche Weise verdrahtet.

Ich weiß, dass jede Person in gewisser Weise verschieden ist, aber wenn man sich einen Hasen ansieht, dann gibt es etwas an ihm, das einen dazu veranlasst, ihn nicht als Hund, Löwen oder Bären anzusehen. Es gibt etwas Hasen-artiges am Hasen. Es ist egal, welches Wort man dafür verwendet. Wir verwenden üblicherweise das Wort „Hase“, aber welches Wort wir auch immer verwenden, man kann den Hasen als Hasen identifizieren. Es gibt ein Modell, das wir einen Hasen nennen. Wenn man einen Hasen als Heimtier hat, dann mag man über ihn in persönlicherem Sinn denken. Für die meisten von uns ist ein Hase aber ein Hase. Genauso gibt es ein von der Natur geschaffenes Modell, das ein menschliches Wesen darstellt, und es ist so verdrahtet, dass es auf eine bestimmte Weise funktioniert. Es verhält sich nicht wie ein Vogel, ein Delphin oder eine Amöbe. Wenn man diese Art studiert, dann studiert man alles, was das Modell hervorbringt, einschließlich dieser komplexen Zivilisationen, der Aktien- und Geld-Märkte, der Sprache, der Kunst und der Musik. Das Modell wird seinem Wesen entsprechend kreieren und das ist es, was mich dazu antreibt, die Geschichte zu studieren. Geschichte [history] ist einfach unsere Geschichte [story]. Man darf aber nicht vergessen, dass sie in der Regel die Ansicht von jemandem darstellt. Man muss die Lügen mitberücksichtigen und, dass sie die Perspektive von jemandem wiedergibt. Sie ist immer subjektiv. Sie ist niemals objektiv. Tatsächlich gibt es so etwas wie Objektivität nicht. Sie existiert nicht. Es ist mir egal, was Wissenschaftler sagen. Wir erzeugen die Mess-Instrumente, wir machen die Tests und wir beurteilen die Ergebnisse. Bei all dem gibt es nichts Objektives - absolut nichts. Das Wort Objektivität bedeutet gar nichts, denn wir können nicht aus uns hinaustreten - in keiner Weise - nie.

Interviewer: Ich verstehe, du beziehst diese Philosophie auf das Überschreiten der Starrheit der westlichen Musik-Notation und Musik-Konzepte.

SC: Ja. Wenn einem jemand erzählt, dass es 12 Noten in einer Oktave gibt und dass es etwas gibt, das man eine reine Quart oder reine Quint nennt, dann sage ich: „Gut, wo kommt das her?“ Leute reden davon, dass bestimmte Systeme des Stimmens natürlich seien. Natürlich für uns, ja, aber ich sehe keine Delphine oder Affen, die reine Quinten verwenden [lacht]. Wenn wir von natürlich reden, dann reden wir vom menschlichen Modell. Man muss also zu dieser Diskussion zurückgehen. Ich verstehe es so, dass es bestimmte Prozesse gibt, die in der Natur ablaufen, und Analogien zu bestimmten Prozessen, die Menschen wahrnehmen. Was ist aber mit den unzähligen Dingen, die keine Analogie haben oder nicht wahrnehmbar sind?

Ich hab festgestellt, dass bestimmte numerische Muster, die in der Musik vorkommen, auch in der Astronomie, in den Sonnen-Flecken und den Zyklen der Finsternis vorkommen. Elemente der Musik scheinen also bestimmten natürlichen Prozessen zu entsprechen. In alten Zeiten strukturierten manche Leute die Musik, um einen Einklang mit ihnen herzustellen. Wir haben heute noch mit diesem Zeug aus alten Zeiten zu tun. Es gibt nicht so viel Neues. Die Struktur der Zeit, wie wir die Zeit sehen, die Idee von 24 Stunden an einem Tag, 12 Monaten in einem Jahr und 30 Tagen in einem Monat – dieses Zeug ist vor Tausenden von Jahren eingerichtet worden und wir verwenden es nach wie vor, lediglich mit anderen Instrumenten. In der Musik ist das nicht anders. Reine Quinten, übermäßige Terzen, Intervalle und Tonleitern sind vor Tausenden von Jahren eingerichtet worden. Das heißt nicht, dass die Musik früher genauso klang wie heute, aber die Struktur bleibt eine wohl durchdachte Nachbildung von Dingen, die in der Natur vorkommen. So sehe ich das. Man darf aber andererseits nicht vergessen, dass die Dinge nicht auf diese Weise ablaufen mussten. Es gibt Dinge, bei denen mir völlig logisch erscheint, warum sie aufgetreten sind, und ich akzeptiere sie. Frag mich aber nicht, was, denn es ist zu schwierig, es zu erklären [lacht]. Es gibt jedoch andere Dinge, von denen ich dachte, sie gingen nach links, während sie nach rechts gehen können. Mein Geist fragt natürlich: „Was wäre geschehen, wenn sie nach rechts gegangen wären?“ So folge ich dem Weg, der der rechte ist. Ich versuche nicht, ein Wortspiel zu machen, aber nach meinem Gefühl ist der richtige Weg manchmal der andere Weg. Und das verändert meine Musik, denn ich treffe eine bewusste Wahl, diesen Weg zu gehen - im vollen Wissen, worum es beim anderen Weg geht. Daher studiere ich die Ursprünge der Musik, um zu verstehen, worum es bei den Wahlmöglichkeiten geht. Manchmal geht es bei Wahlmöglichkeiten um winzige Dinge, aber das Resultat ist der Punkt. Und das führt zu dieser „Warum-Sache“, die ich als Kind erlebt habe. Der entscheidende Punkt ist: Warum geht man in diese Richtung statt in die andere? Wenn es keinen guten Grund gibt, in diese Richtung zu gehen, warum geht man dann nicht in die andere Richtung?

Taktarten sind ein ausgezeichnetes Beispiel für das, wovon ich spreche. Leute haben mir immer gesagt, meine Musik sei in ungewöhnlichen [ungeraden] Taktarten. Das ist sie nicht. Es ist einfach ihre Art sie wahrzunehmen. Ich verwende nicht so viel Taktarten, vor allem heute nicht, es sei denn, ich spreche mit jemandem, der nur in diesen Begriffen denken kann, und ich muss es für ihn übersetzen. Das meiste von diesem Zeug kommt von europäischen Strukturen, denn es ist die vorherrschende Kultur eines bestimmten Ortes, die die Regeln aufzwingt. Es besteht kein Zweifel, dass die europäische oder westliche Kultur heute die Welt beherrscht und die Vereinigten Staaten sind eine Erweiterung davon. Die westliche Kultur ist heute zur so genannten Norm geworden, genauso wie sich die römische Welt an so vielen Orten aufgezwungen hat.

So betrachten die meisten Leute heute die Taktarten als Norm. Wenn da jemand heraus fällt, sagen sie: „Du arbeitest mit ungewöhnlichen [ungeraden] Taktarten, denn ich kann sie nicht zählen.“ Ich sage: „Das ist nicht in ungewöhnlichen [ungeraden] Taktarten. Das ist überhaupt nicht in Taktarten.“ Dann werden sie sagen: „Was meinst du?“ Und ich sage: „Taktarten sind einfach ein Weg, Dinge zu tun.“ Es ist eine neuere Methode. Sie kam von Leuten, die Musik gelernt haben, indem sie Musik lasen. Sie sprechen über Taktarten, weil sie gelernt haben, in der westlichen Notation zu lesen. Vergiss nicht, es gibt sehr wohl auch heute Kulturen, die nicht diese Art Zeug verwenden. Ich hab meinen Trompeter am 10. September 2001 zum ersten Mal nach Kuba mitgenommen, genau einen Tag, bevor diese Worl-Trade-Center-Sache passierte. Er wohnte in einem Apartment direkt beim World Trade Center. Er hatte also echt Glück. Eine der Sachen, die ich ihm erzählte, als wir nach Kuba fuhren, war: „Stell den Typen keine Fragen über Taktarten, frag nicht ‚Wo ist die Eins?’, denn es gibt vielleicht gar keine.“ Er sagte: „Was meinst du damit? Sicher gibt es eine Eins.“ Ich sagte: “Es gibt manche Musik, in der es keine gibt.” Und er konnte das von mir nicht annehmen. Deshalb fragte er mithilfe eines Übersetzers einen kubanischen Perkussionisten, mit dem wir arbeiteten: „Wo ist die Eins?“ Der Typ sagte: „Wo willst du sie haben?“ [lacht] Der Trompeter sagte: „Was meinst du?“ Der Perkussionist sagte: „Die Eins kann sein, wo immer du sie dir vorstellst. Wohin willst du sie also setzen?“ Der Trompeter sah mich verwirrt an und ich sagte: „Ich hab dir ja geraten, nicht hier herunterzukommen und die Musiker zu fragen, wo die Eins ist!“ [lacht] Ich begegnete dieser „Keine Eins“-Sache in Ghana, als ich 1993 dorthin kam. Ich wusste von ihr und, dass es dort andere musikalische Konzepte gab, nach denen das richtige Platziert-Sein in der Musik auf verschiedenen Arten von Beziehungen beruht. Es gibt eine Menge anderer Arten, Rhythmen und Tonhöhen zu organisieren, die im Westen nicht gebräuchlich sind.

Es gibt aber auch Dinge wie die Oktave, die man überall findet, und das bedeutet, dass sie im menschlichen Organismus verdrahtet ist. Sie ist eine Sache, die wir in meinen Augen alle gemein haben. Die anderen Dinge sind mehr wie eine Software – sie sind austauschbar und können von Ort zu Ort und von Kultur zu Kultur variieren. Dem austauschbaren Zeug schenke ich nicht so viel Aufmerksamkeit, außer wo es mein Leben erhalten kann. Es ist das Zeug, das in uns fix verdrahtet ist, das mich am meisten interessiert, denn dieses Zeug ist am stärksten gebunden an das Modell des Menschen und wie er die Natur sieht oder auf sie reagiert.

Es gibt Vögel, die Tausende von Meilen nach Süden fliegen und genau zum selben Baum wieder zurückkommen können – ohne Kompass oder Landkarte. Offensichtlich haben sie etwas, das sie dorthin bringt. Dasselbe gilt für Delphine und den Lachs. Sie leben im offenen Ozean und freien Himmel, haben jedoch eine erstaunliche Fähigkeit, zum selben Punkt zurückzunavigieren, von dem sie gestartet sind. Etwas geht in ihnen vor sich. Es mag auch der Magnetismus der Erde sein oder irgendeine Sache der Sonne, aber sie können das machen, ohne dass Schilder sagen: „gehe jetzt nach links“ oder „500 Meilen nach Chicago“. Etwas von dem hatten früher auch Menschen, einschließlich der Eingeborenen und Naturvölker, als sie der Natur nahe waren. Sie waren in der Lage, es auf solche Weise zu verstehen, dass sie die Symbole eines zerrissenen Blattes oder Tier-Schwanzes lesen konnten, um Wasser so zu finden, wie wir heute ein Hinweisschild oder eine Landkarte lesen. Ich beziehe das insofern auf die Musik, als ich mehr an einem Musik-Machen interessiert bin, das aus diesen ursprünglichen Quellen abgeleitet ist, als an einem Haufen Funktionen. Einer der Gründe, warum ich mich mit MCs zusammentun wollte, ist der, dass sie mit Instinkt agieren, wie viele Blues-Musiker. Ich möchte diese Komponente erhalten und sie mit der mentalen Seite ausbalancieren – ohne zu weit auf diese Seite zu geraten.

Interviewer: Wie wichtig ist es für Dich, dass die Hörer die Komplexitäten und organisatorischen Untermauerungen Deiner Arbeit verstehen?

SC: Ich lernte vor langer Zeit, mir keine Sorgen um das zu machen, worüber ich nicht viel Kontrolle habe, und das ist eines dieser Dinge. In traditionellen Gesellschaften kannte man sein Publikum, denn dein Publikum war ein Stamm und man kannte ihre Eigenart. Mit der Art von Musik, die ich mache, spiele ich vielleicht an einem Tag in Polen, am nächsten in Japan und einen Tag später in Amerika. Deshalb weiß ich oft nicht, wen ich erreiche. Leute sprechen auch über Amerika, als wäre das eine einzige Kultur. Das ist absolut nicht so. Es ist ein Schmelztiegel einer Menge unterschiedlicher Kulturen und es gibt hier alle Arten von Leuten. Letzte Nacht spielten wir vor einem vollen Haus aus Leuten von verschiedenen Gegenden, einschließlich Europa, Japan und Afrika, die unterschiedliche Weltanschauungen, Rassen und Kulturen repräsentierten. Ich kann daher nicht sagen, mein Publikum sei dies oder das. Ich kenne vielleicht ein paar Leute, aber von den meisten weiß ich nicht, wer da draußen ist und welche Erfahrungen sie haben. Ich weiß daher auch nicht, was sie hören und wie sie es interpretieren. In gewisser Weise ist „hören“ das falsche Wort, denn wir hören alle mehr oder weniger dieselben Sachen, aber es kommt darauf an, wie unser Geist interpretiert, was wir hören. Wir sprechen über den Geist und wie dieser Geist Dinge versteht, beruht darauf, wer du bist, wie du aufwuchst, auf deiner Familien-Situation, deiner Ausbildung und deiner Kultur – letztlich darauf, wer du schwingungsmäßig und geistig bist.

Ich weiß also nicht, was jemand mitkriegt, wenn ich spiele. Ich spielte in Kanada und die Leute begannen hinauszugehen. Ich fragte mich daher: „Warum gehen die Leute hinaus?“ In der Regel sagen die Leute, die deine Musik aus dem einen oder anderen Grund nicht mögen, dir nicht warum. Sie gehen weg, bevor man eine Chance erhält, mit ihnen zu reden. Hin und wieder stößt man auf jemanden, der das ganze Konzert lang dableibt und danach zu einem kommt und sagt: „Ich mochte deine Musik nicht.“ Es ist sehr selten, dass das jemand macht. Wenn es jemand macht, dann sag ich: „Gut, o.k., warum?“ Und dann sagen sie meistens, weil es irgendwelche Erwartungen gab, die man nicht erfüllt hat. Es können viele Dinge sein. Es kann darauf hinauslaufen, dass sie in der Arbeit einen harten Tag hatten und dass sie mit ihrer Frau ausgehen wollten, um Jazz zu hören – mit ihrer Erwartung von dem, was Jazz ist. Sie sagen vielleicht: „Es war nicht, was ich erwartete. Du hast mir keinen Jazz-Abend verschafft, sondern irgendeinen Scheiß.“ [lacht] Hin und wieder stoße ich auf jemanden, der meine Musik vor 10 Jahren kennt, und das ist es, was er hören möchte. Er wird Dinge sagen wie „Black Sience ist mein Lieblings-Album. Ich hab die Platte so oft gespielt, bis sie ausgespielt war, und ich will diesen Typen hören und jetzt kommt er endlich in meine Stadt.“ Aber dann kriegt er vielleicht etwas anderes zu hören und sagt vielleicht: „Das ist nicht Black Sience. Ich weiß nicht, was das sein soll, aber er klang furchtbar.“

Natürlich hat man auch die Leute, die deine Musik bereits kennen und die deshalb kommen. Wenn sie deine Musik kennen, sind sie in der Regel auch zufrieden. Es gibt eine kleine Minderheit an Leuten, die kommen, weil sie überrascht werden wollen. Sie wollen auf deiner Reise mitgehen und schauen, wo du jetzt bist. Sie erwarten nicht, dass du genauso aussiehst wie vor 5 oder 15 Jahren. Sie realisieren, dass sich eine Person weiterbewegt, und sie wollen sehen, wohin sie sich weiterbewegt. Ein klassisches Beispiel dafür wäre John Coltrane. Wenn du Blue Train gehört hast und dann daherkommst, um ihn 1966 mit Pharoah Sanders, Alice Coltrane und Rashied Ali zu sehen, und sie spielen dann „The Father, Son and the Holy Ghost”, dann sagst du vielleicht: „Wo ist Blue Train? Wo ist der Song, wegen dem ich die Platte kaputt gespielt habe?“ So gab es eine Menge Leute, die bei ihm hinausgingen. Ich sprach mit Rashied und McCoy Tyner darüber und sie erinnerten sich daran, wie Leute sagten, „das ist nicht My Favorite Things“, und hinausgingen. Die Leute haben also diese Erwartungen, weil sie sich auf Unterhaltung beziehen. Trane ging es nicht um Unterhaltung. Er sagte fast nichts während seiner Konzerte. Er sagte nicht die Band an oder so etwas. Für ihn war seine Musik an diesem Punkt etwas, mit dem er meditierte. Es ging um Gebet. Es war auf dieser Ebene. Trane konnte aber nicht das Denkmuster ändern, das besagt: „Du bezahlst dein Geld, gehst in den Club, trinkst ein wenig Wein und genießt ein wenig Jazz.“ Wenn Leute hingingen, um Hank Mobley und Sonny Stitt zu sehen, dann ist es das, was sie bekamen. Sie hatten eine Vorstellung davon, was Jazz sein sollte. Sie sahen ins Downbeat oder Metronome und lasen: „Dieser Typ ist ein Top Jazz-Künstler, der in den Umfragen hoch rangiert. Schau, da gibt es John Coltrane, lasst uns hingehen, um ihn zu sehen.“ Und dann gehen sie hin, um ihn zu sehen, und sie sehen einen Typen, der sich auf die Brust schlägt und „Om“ ausruft, und da ist noch ein Typ, der auf seinem Saxofon kreischt, und sie denken: „Was zum Teufel soll das sein? Was geschah mit dem Finger-schnippenden Zeug, das ich liebte?“ Trane konnte also sein Publikum nicht verändern. Alles, was er tun konnte, war, dem zu folgen, wonach er strebte. Natürlich haben mittlerweile eine Menge Leute nachgezogen - aber deshalb, weil der Mann tot ist und sein Zeug dadurch in der Zeit eingefroren ist. Entweder man zieht nach oder nicht. Er starb 1967 – das ist 40 Jahre her, sodass es eine Menge Zeit gab, um nachzuziehen.

Es ist genauso, wie Leute bei Bach nachzogen. Sie zogen nicht mit ihm mit, als er lebte, aber jetzt ruht der gesamte westliche musikalische Kanon auf seinen Schultern. Es ist dieselbe alte Geschichte, wenn man sich die Vergangenheit ansieht. Man kennt diese Geschichte. Man weiß, was einen erwartet, denn es sind dieselben Menschen mit denselben Eigenschaften und Mustern. Wenn man sich für diesen Weg entscheidet, dann erwarten einen dieselben Aussichten darauf, dass bestimmte Dinge geschehen, die schon früher geschahen. Schau dir Malcolm X und seine Situation an. Wenn du in die Vergangenheit zurückschaust, begegneten andere Leute den gleichen Problemen. Schau sie dir an und schau, wie sie ihre Probleme bewältigten oder nicht, und das ist so ziemlich das, was einen selbst erwartet. Es ist nicht wie in den Tagen, als wir vor den Mastodonten davonliefen, wir leben heute unter anderen Leuten und so lange das so weitergeht, bleiben diese Arten von Problemen bestehen. Während sich die Technologie verändert, ändern sich die Leute nicht. Die Probleme kommen von der Gesellschaft. Wenn man ein Problem mit dem Telefon-Unternehmen hat, hat man ein Problem mit Leuten. Das Telefon-Unternehmen ist nichts, das außerhalb von Leuten existiert.

Soweit es um das Publikum geht: Ich versuche die Leute zu verstehen. Ich kann sie nicht unbedingt in einer Nacht erreichen, aber durch wiederholtes Hören kann die generelle Schwingung einer Person möglicherweise von etwas erreicht werden. Aber in einer Nacht weiß ich nicht, was ich bekommen werde. Ich habe keinerlei Kontrolle über die Reaktion des Publikums.

Interviewer: Wie ist es bei Deinen Band-Mitgliedern? Wie wichtig ist es für sie, wirklich mitzukriegen, was du machst?

SC: Wiederum: Sie sind Leute, allerdings sind sie keine normalen Leute. Sie sind ja Leute, die man ausgewählt hat, um mit ihnen zu arbeiten. Wenn es meine Band ist, bin es in der Regel ich, der die Auswahl vornimmt. Manchmal kommen Vorschläge ins Spiel und ich wähle schlecht. Manchmal wähle ich Leute, mit denen es klappen sollte, aber nicht klappt, und man findet das relativ schnell heraus. Die Band, die ich jetzt gerade habe, funktioniert ausgezeichnet. Es ist eine der besten Bands, die ich je hatte. Meistens gibt es eine oder zwei Personen, die nicht ganz hineinfinden, aber das ist im Moment nicht der Fall. Meistens bestehen diese perfekten Bands nicht lange.

Was das Verständnis der Band-Mitglieder für das, was abläuft, betrifft, so hängt das von der Person ab. Wie weit wollen sie in das hineingehen, woher man kommt und was man macht? Das ist ihre Entscheidung. Wenn man sich Leute sucht, die intelligent, geschickt und sensibel sind, dann werden sie ihre eigenen Sachen anstreben und die werden nicht exakt wie meine eigenen Sachen sein – was super ist, denn ich möchte nicht, dass sie genau wie meine Sachen sind. Ich würde keine Band wollen, in der jeder wie ich ist. Das wäre furchtbar. Ich könnte dann genauso gut alleine spielen. [lacht] Der entscheidende Punkt eines Ensembles ist das End-Resultat der Musik, das man aus der Interaktion aller Persönlichkeiten in der Band erhält. Es geht nicht um eine Person. Eine Person mag der Architekt sein, aber das End-Resultat hängt vom Zusammenwirken der Leute in der Band ab. Ich versuche, Leute zu finden, die in bestimmten Dingen gut sind, in denen ich nicht so gut bin, um eine Balance zu finden. Einige Leute sind stärker in manchen Dingen als in anderen. Außerdem versuche ich nicht, all diese anderen Instrumente zu spielen. Ich kann dem Schlagzeuger gar nicht genau sagen, wie er seinen Job machen soll, denn er studiert das Schlagzeugspielen seit langem und ich nicht.

Interviewer: Interessieren sich viele deiner Band-Mitglieder für die Forschung, die deine Kompositionen anregt?

SC: Sie alle machen das in unterschiedlichen Graden, aber manche mehr als andere. Ich hatte einmal in einem japanischen Restaurant ein Gespräch mit McCoy Tyner und ich stellte ihm dieselbe Frage über Trane. Ich sagte: „Hast du verstanden, was Trane machte?“ Er sagte gerade heraus: „Nein“. Ich sagte daher: „Wie hast du dann mit ihm gespielt?“ Ich kannte gewissermaßen die zu erwartende Antwort, aber ich wollte seine Worte hören, denn er ist ein älterer Musiker und ich habe vor ihm Respekt. Ich wollte wissen, woher er kam. Er war dort und ich nicht. Er sagte: „Ich wusste, dass Trane mit all diesem Zahlen-Zeug arbeitete, neben all dem anderen Zeug, das sich abspielte. Ich konnte ihn lesen sehen, aber ich ließ ihn einfach allein. Ich hab mich mit dem nicht beschäftigt. Wir haben nicht so viel gesprochen und wir haben nicht so viel geprobt. Das war die Art dieser Gruppe. Trane brachte diese Skizzen ein, gab uns minimale musikalische Anleitungen und dann legten wir los. Meine Reaktion auf das war intuitiv. Ich habe es durch Osmose aufgegriffen.” Als McCoy sich erstmals der Band anschloss, spielte er nicht so viel. Er sagte: „Ich hielt mich nicht zurück, um cool zu wirken, sondern weil ich nicht wusste, was Trane spielte.“ [lacht] Wenn man ihn mit dem Pianisten vergleicht, der vor ihm eingesetzt war, sieht man den großen Unterschied. Dieser Musiker versuchte allem zu folgen, was Trane machte, und wurde gefeuert. Als McCoy hineinkam, hielt er sich zurück. Das war geschickt. Wenn man sich die Platten und Bootlegs [Raubkopien] anhört und in der Zeit schrittweise weitergeht, dann sieht man, wie er immer mehr mit Trane spielte. Wenn man zum Jahr 1964 kommt, dann spielt er viel mehr. Bestimmte Dinge wurden zur Gepflogenheit, wie: Trane spielt mit Bass und Schlagzeug und nur mit dem Schlagzeuger. Das war etwas, das sich in der Band entwickelte, und McCoy durchschaute es. Er durchschaute es in der McCoy-Tyner-Sprache, nicht in der John-Coltrane- Sprache. Er machte die Dinge so, wie er dachte, dass sie funktionieren, und nachdem Trane nichts dazu sagte, fuhr er mit dem, was er machte, fort. Und Tranes Motto war: “Das ist der großartige McCoy Tyner. Ich kann ihm nicht sagen, wie er sein Klavier zu spielen hat.“ Dasselbe mit Elvin Jones. Er ließ sie machen, was sie machten. Tranes Job war, die Leute aufzugreifen, die die richtige Sache machen werden und ihn sogar überraschen, damit er die Reaktion bekommt, die er wollte – natürlich.

Interviewer: Ist das auch dein Zugang zur Auswahl der Band-Mitglieder?

SC: Es beginnt da. Wenn man das nicht hat, ist der Rest bedeutungslos. Ich hatte Leute, die das Gegenteil waren und versuchten alles zu verstehen, aber nichts machen konnten. [lacht] Sie verstanden alles mental, aber das ist nicht das, was ich möchte. Ich möchte keine Gruppe aus Schulkindern. Ich möchte, dass die Leute in erster Linie eine ordentliche Reaktion bringen. Manchmal kriegt man beides – ein wenig von dem und ein wenig vom anderen. Es hängt von der Person ab. Es ist nicht so festgelegt. Jede Person ist anders, wie eine Schneeflocke. Als Leiter muss man sensibl für das sein und verstehen, was die Stärke einer Person ist. Man fragt sich: „Wie weit kann ich mit dieser Person gehen?“ Ich hatte ein paar Schlagzeuger, die fantastisch waren – Musiker, die nahezu alles machen konnten, wie Marvin „Smitty“ Smith und Tyshawn Sorey. Es ist dann einfach eine Frage, was sie machen möchten. Es läuft nicht darauf hinaus, was sie nicht machen können, denn sie können so ziemlich alles machen. Sie haben keine Begrenzungen in Bezug auf das, was ich ihnen gebe. Aber sie sind völlig unterschiedliche Leute und Schlagzeuger, sodass ich nicht dieselbe Sache von jedem von ihnen erhalten werde. Es beruht auf ihren Persönlichkeiten. Ich hatte einmal einen anderen fantastischen Schlagzeuger, der alles machen konnte, aber was er machte, funktionierte für mich nicht aufgrund seiner Entscheidungen, sodass die Beziehung endete. Die andere Sache, die nicht funktionierte, war, dass er eine Menge Geld wollte. Ich mache keine Menge Geld und kann daher nicht jemandem eine Menge Geld bezahlen. Wenn also Musiker beginnen, eine ganze Menge zu fordern, dann geht die Sache zu Ende, denn ich kann das nicht. Ich bin nicht Pat Metheny oder Chick Corea oder einer von diesen bekannten Typen.  

Interviewer: Mit welchen anderen Herausforderungen bist du als Bandleader konfrontiert?

SC: Die wichtigste ist: Man arbeitet seine Ideen zuhause in einer idealen Situation aus, aber wenn man mit der Band zusammenkommt, dann ist es möglicherweise keine ideale Situation. Ein Musiker versteht vielleicht nicht, was läuft, und ein anderer Musiker trifft vielleicht zu spät ein. Als Berufsmusiker ist einem klar, dass diese Dinge passieren können, und deshalb kalkuliert man sie ein. Man rechnet mit Sachen wie „dieser Musiker versteht es einfach nicht“ oder „dieser Musiker will es nicht verstehen“. Das ist auch der Punkt, wo die Auswahl guter Musiker ins Spiel kommt, von denen man weiß, dass sie auch unter den schlechtesten Bedingungen reagieren können und immer noch etwas zustande bringen, das hübsch ist. Tatsache ist, dass man über niemanden die Kontrolle hat, einschließlich des Publikums. Ich habe keine Kontrolle darüber, wenn der Schlagzeuger einen Streit mit seiner Frau hatte, bevor er zum Gig kam, und in einer miesen Stimmung ist und auf niemanden hören will. Das passiert. Irgendwer hat vielleicht eine schlechte Zigarette oder Tasse Kaffee erwischt und das beeinträchtigt ihn. Man berücksichtigt also diese Dinge und versteht, dass sich jemand in der Band vielleicht in seinem A-Spiel befindet, während ein anderer in seinem C-Spiel sein mag. Genau wie in einem Basketball-Spiel müssen verschiedene Leute zu verschiedenen Zeiten hervortreten. Manche Leute treten ständig mehr hervor als andere. Man muss auch in der Musik Raum für diese Dinge lassen. Ich plane nicht alles bis ins Detail. Das ist eine improvisierte Musik. Ich bereite eine grundlegende Struktur und die Leute machen innerhalb der Struktur, was sie möchten. Eine weitere Herausforderung ist es, den Leuten dazu verhelfen, das zu tun, was sie tun, und trotzdem noch Züge seines Konzepts zu bewahren.

Interviewer: Du glaubst, dass alle Musik verschlüsselte Information hat. Bedeutet das, dass die Musiker eine Verantwortung haben, etwas Positives auszudrücken, wenn sie spielen?

SC: Nein. Wenn man das Gefühl hat, eine Verantwortung zu haben, dann hat man eine Verantwortung. Offensichtlich haben das die meisten Leute nicht. [lacht] Ich denke, dass alles verschlüsselte Information hat, ob man sie hinein gibt oder nicht. Wir kommunizieren alles mit Symbolen, einschließlich der Sprachen. Die Sprache ist nichts als klangliche Symbole mit einer vereinbarten Bedeutung. Was ist ein Mandarin? Es ist das, worin Millionen von Leuten übereinstimmen, was bestimmte Klänge bedeuten. Dieselbe Sache gilt für Englisch und Latein. Und dieselbe Sache läuft in der Musik. Wenn man kreative Musik spielt, kann man festlegen, was als Übereinkünfte gilt, sodass es nicht bloß darauf beruht, was kulturell abläuft – auch wenn es weitgehend so ist. Eine Menge von diesem Zeug wurde entwickelt, bevor wir geboren wurden. Und da man in eine Kultur hineingeboren wurde - eine weitere Gruppe von Übereinkünften, die seit einer ganzen Weile bestehen –, ist man in diese Situation hineingeboren. Wie normal oder eigenartig man ist, hängt davon ab, wie weit man sich dafür entscheidet, die Sache, in die man hineingeboren wurde, zu akzeptieren. Wenn man ein so genannter normaler Amerikaner ist, dann akzeptiert man ganz schön viel von den Standard-Sachen, über die jeder redet, wie die „amerikanische Art“ und diese ganze Apfelkuchen-Scheiße. [lacht] Das positioniert einen schön in der Mitte. Diese Codes beeinflussen einen auch dann, wenn man sich ein wenig nach links oder nach rechts bewegt - bildlich gesprochen, nicht politisch.

Musik wurde in der Geschichte genauso gut als Sprache benutzt wie zur Unterhaltung. Wenn ich die geschichtliche Entwicklung betrachte, so gab es die Code-Sache immer schon. Es ist etwas, das in der Vergangenheit sehr stark war, das aber in dem, was in unserer modernen Unterhaltungs-Kultur – vor allem in Amerika - abläuft (wo man eine McDonalds-„Befriedige mich jetzt“-Sache hat), nicht so offensichtlich ist. Oder sie verwenden die Codes für andere Dinge. Wenn du zum Beispiel in den Supermarkt gehst und sie die Musik dazu verwenden, zu versuchen, dich zum Zeug kaufen zu bringen, oder wenn du in einen Grusel-Film gehst und die Musik dazu bestimmt ist, dir Furcht einzuflößen. Beides sind Beispiele für eine Musik, die zu einem Zweck verwendet wird, dich zum Kaufen von Produkten zu bringen oder als ein psychologisches Werkzeug. Das Ziel ist, etwas hier und etwas da herauszuholen und einen dazu zu bringen, in einer bestimmten Weise zu handeln. Im Gegensatz dazu arbeiteten Leute wie Coltrane und Beethoven in einem mehr metaphysischen Bereich. Was ich durch das Zurückgehen und Studieren der Geschichte herausgefunden habe, ist, dass die Struktur der Musik auf Absicht beruht. Es war nicht einfach eine zufällige Aktivität, die ergab, wie sich diese Strukturen entwickelten. Während dieses Prozesses fragte ich mich: „Was ist in all den Musiken der Welt unterschiedlich?“ Es liegt nahe, sich damit auseinanderzusetzen. Ich beschloss deshalb, mir anzusehen, was das Gemeinsame aller Musiken der Welt ist. Es half mir, etwas in den menschlichen Mustern zu identifizieren, worüber ich zuvor sprach.

Interviewer: Was sind die Gemeinsamkeiten oder Einheitlichkeiten, die du entdeckt hast?

SC: Es ist schwierig, darüber zu sprechen, aber es gibt in jeder Kultur eine gewisse Art mit Zeit, Tonhöhe, Oktaven und der Struktur der Musik umzugehen. Es ist etwas, das man wirklich nur Menschen tun sieht. Wenn Löwen brüllen, klingt es nicht wie Musik. Sie vokalisieren nicht unisono oder in Oktaven. Wölfe haben ihre Sache laufen, aber es ist auch nichts, was man Musik nennen würde. Es gibt einige Lebewesen, deren Sprache an Musik erinnert, wie die von Vögeln, aber wenn man Vogel-Rufe studiert, findet man, dass sie ganz anders sind als das, was wir Musik nennen. Es ist eine sehr unterschiedliche Struktur, denn zu dem, was Menschen machen, gehört das Quantisieren2). Wenn man sich alles ansieht, was wir schaffen und wie wir Dinge verstehen, dann ist das Quantisieren ein Teil davon. Ich sage jetzt nicht, dass unser ursprünglicher intuitiver Impuls von daher kommt. Ich denke, er kommt von einem Ort, der sich davon unterscheidet. Wie auch immer, die Augmentation3) und der Erkenntnisprozess kommen definitiv vom Gesichtspunkt des Quantisierens. Wir greifen das auf und wenden es auf alles an. Es ist unsere Art des Organisierens der Dinge in unserem Gehirn, denn die Art, wie wir etwas verstehen, ist, dass wir ein Abbild in unserem Kopf codieren. Wir müssen es nicht unbedingt in Worten verstehen. Man kann einen Gedanken denken, ohne dass irgendwelche Worte ins Spiel kommen. Man kann plötzlich an ein gesamtes Konzept denken, aber wenn man von jemandem ersucht wird, es zu erklären, brauchen die Worte vielleicht lange, bis sie kommen. Einstein verstand die Relativität plötzlich, aber es brauchte Jahre, um es auszuarbeiten und in einer Weise in der mathematischen Sprache zu entwickeln, die andere Leute verstehen konnten. Ich habe das selbst erlebt. Ich habe plötzlich eine Idee von einem ganzen Konzept beim Aufwachen, aber das auszuarbeiten oder in einer für andere verständlichen Weise zu erklären, kann eine Weile brauchen – manchmal braucht es Jahre.

Interviewer: Welchen Einfluss hat Spiritualität in diesem Zusammenhang?

SC: Inspiration hat mit dem Geist (Spirit) zu tun. Tatsächlich steckt das Wort „Spirit“ (Geist) im Wort „Inspiration“. In alten Zeiten wurden Geist und Atem als dasselbe Wort angesehen. Das deshalb, weil der Atem des Lebens und der Geist des Lebens dieselbe Sache waren. Sie verstanden unter „Atem“ nicht notwendigerweise das Ein- und Ausatmen. Vielmehr war es miteinander verbunden, weil sowohl die Luft als auch der Geist Dinge sind, die man nicht sehen kann. Diese Sache des Strömens in und aus dem Körper ist es, was alle lebenden Kreaturen haben, und deshalb wurde es so empfunden, dass dies mit dem Geist verbunden ist. Deshalb enthält das Wort „Respiration“ wiederum den „Spirit“. Nun erfolgt das Atmen, auch wenn man nicht denken kann, sogar wenn man im Koma liegt. Das Atmen bleibt bestehen und es ist mysteriös und etwas, das Wissenschaftler nicht verstehen. Man kann sie fragen, was das Leben ist, und sie können von den Prozessen und Elementen des Lebens erzählen, aber sie können einem nicht sagen, was das Leben selbst ist. Weiters ist Klonen nicht das Leben, denn man beginnt mit etwas, das einem die Natur gegeben hat. Man erschafft nicht das Ding selbst. Niemand weiß wirklich, was im Sperma drinnen ist, das in das Ei übertragen wird. Wie auch immer, das ist nicht Teil der Augmentation. Die Augmentation ist, was sich in unserer Spezies entwickelt, und andere Tiere haben das in verschiedenen Graden. Obwohl es deshalb schwierig ist, die Herkunft der Idee zu erklären, kann man sagen, dass ihr Ergebnis von anderen Dingen abhängt, die man aus der Vergangenheit kennt, sodass ein geschichteter Prozess am Werk ist. Wenn man von Wölfen aufgezogen wurde, wird man keine Idee von einem musikalischen System oder der Relativität haben. Man könnte der künftige Albert Einstein sein, aber nicht die Idee der Relativität haben, weil man nicht studiert hat und nicht den Hintergrund hat, der einem dazu führt. Deshalb glaube ich persönlich, dass Ideen unabhängig davon sind, was man weiß, aber wenn man von Gorillas aufgezogen wurde, dann würde diese Idee etwas mit dem Gorilla-Zeug zu tun haben.

Für mich ist Spiritualität einfach. Wenn man am Leben ist, ist sie da, egal ob man sie wahrnehmen möchte oder nicht. Sie ist nicht so mysteriös. Sie ist einfach eine Angelegenheit der inneren Suche. Wenn man sich mit Dogma beschäftigt, kann man vielleicht eine Massenware akzeptieren, die einem jemand gibt. Es ist ein Fall von „Hier ist deine Servierplatte. Das ist dein Mahl und du musst es essen, ohne jede Anpassung.“ Das ist das religiöse Zeug und es ist für Leute, die einfach genau das tun, was ihnen gesagt wurde. Ich bin nicht einer dieser Leute. Ich bin eine hinterfragende Person und das Fragen kommt von innen. Deshalb weiß ich letztlich, dass, wenn es irgend eine Art von Geist [Spirit] gibt – und ich glaube, dass es ihn gibt -, er in einem selbst ist. Ich studiere und untersuche, was andere Leute denken, denn sie haben dieselbe Sache in sich. Deshalb bin ich neugierig, auf was sie gekommen sind. Die endgültige Antwort wird aber immer von innen kommen.

Interviewer: Kannst Du beschreiben, wie Du von der Inspiration zu einer fertigen Komposition gelangst?  

SC: Ich versuche immer in einer Weise zu denken, die Intuition und Logik so zusammenarbeiten lässt, dass sie zu einer Sache werden. Ich lege also weder auf das eine noch auf das andere ein Schwergewicht. Es ist wie ein Ping-Pong-Spiel. Ich lasse beide einfließen und sie werfen den Ball mit Lichtgeschwindigkeit zurück auf die jeweils andere Seite. Beide Dinge geschehen gleichzeitig, sodass man schwer feststellen kann, welche Seite die Oberhand bekommt. Ich verwende auch Träume und Zufälle – alles, was ich möglicherweise nutzen kann, um was auch immer zu kreieren.Das andere, das ich mache, ist die Verwendung der korrelativen Denkweise, in dem ich die Ähnlichkeit der Dinge sehe. Für mich ist das eine wichtige Sache. Beispiele dafür sind die Ähnlichkeiten zwischen Boxen und Musik oder Sex und Musik. All das kommt aus derselben Quelle. In der Lage zu sein, die Ähnlichkeiten zu sehen und sie zueinander in Beziehung zu setzen, hilft daher hinsichtlich der Inspiration und auch der Logik.

Als ich jünger war, hatte ich ein Gespräch mit einem Freund von mir, während wir einen Berg ansahen. Ich sagte: „Mann, es wäre großartig, wenn ich den Berg spielen könnte.“ Er sagte: „Was meinst du damit?“ Ich sagte: „Ich würde gerne mein Horn nehmen und den Berg spielen.“ Er sagte: „Du meinst, dein Horn nehmen, vom Berg inspiriert sein und das Gefühl spielen?“ Ich sagte: „Nein, nicht das Gefühl spielen, sondern wirklich den Berg spielen.“ Er sagte: „Das ist unmöglich.“ Ich antwortete: „Wenn ich dir ein Musikstück vorhalte, dann kannst du es spielen, richtig? Was ich also machen möchte, ist, den Berg anzusehen und ihn als Verkörperung von etwas in einer symbolischen Form vor mir zu haben, genauso wie die Noten auf dem Papier, und ihn einfach spielen.“ Er sagte wieder: „Das ist unmöglich.“ Ich sagte: „Es kann nicht unmöglich sein. Es muss schon früher gemacht worden sein. Es müssen schon andere Leute darüber nachgedacht haben, wenn ich darüber nachdenke.“ Das ist also eines meiner Ziele – die Natur anzusehen, etwa Wolken-Muster oder Vogel-Formationen, und in der Lage zu sein, sie zu spielen. Ich entdeckte durch Studium, dass andere Leute tatsächlich dieselben Ideen hatten und versuchten, das auf verschiedene Weise auszudrücken. Mein Job als Musiker ist es, Musiker zu studieren, die das gemacht haben, genauso wie Architekten die Arbeit von anderen Architekten studieren. Ich versuche zu verstehen, was sie gemacht haben, und herauszufinden, welche Teile auf meinen Standpunkt und mein Empfinden anwendbar sind und wie ich sie verwenden kann. Mit manchem Zeug stimme ich überein, mit manchem Zeug nicht, aber der Punkt ist zu studieren.

Interviewer: Wie hast Du Dich als Saxofonist im Laufe Deiner Karriere entwickelt? 

SC: In mancher Hinsicht mag ich schlechter geworden sein, technisch gesehen. Ich hatte ein Gespräch mit Sonny Rollins und er erzählte mir, wie Leute immer zu ihm kommen und ihn fragen, warum er nicht dies und das spielt und warum er nicht weiterhin in einer bestimmten Weise spielt. Sie reden von Aufnahmen, die er machte, als er 25 Jahre alt war. Er sagte: „Mann, diese Leute verstehen nicht, dass man nicht mehr dieselbe Person ist. Es ist so, als würde man jemanden, der 60 Jahre alt ist, fragen, warum er nicht mehr in derselben Weise läuft wie mit 25.“ Einiges davon ist physisch, aber eine Menge davon ist, dass er nicht mehr dieselben Anliegen hat, die er damals hatte, als er jünger war und richtig schnell spielen wollte. Rollins sagte, dass man ein gewisses Maß an Geduld entwickelt, während man älter wird, und ich stimme dem zu.

Jüngere Leute sind erst einen kürzeren Prozentsatz ihrer Lebenszeit lang am Leben. Wenn du 3 Jahre alt bist und jemand ersucht dich, ein Jahr lang zu warten, bis du ein Spielzeug bekommst, dann hast du eine Wartezeit von einem Viertel deiner Lebenszeit vor dir, sodass sich das als lange Zeit anfühlt. Aber für eine Person, die 60 ist, ist ein Jahr ein viel kleinerer Prozentsatz und sie kann sagen: „Es ist nur ein Jahr. Ich kann warten. Kein Problem.” Die Zeit verfliegt also, wie sie sagen. Sie bewegt sich in einem anderen Tempo, wenn man älter wird. Was das für mich als Spieler bedeutet, ist, dass ich mit anderen Dingen befasst bin. Wie Rollins wollte auch ich, als ich jünger war, alles in halsbrecherischem Tempo spielen. Bei allem ging es um „schnell, schnell, schnell.“ Sogar der Sex war schnell – du weißt, Bunny-Hasen-Sex. [lacht] Jetzt mag ich langsamen Sex.

Als ich richtig jung war, um die 18 oder so, und in die Musik kam, mochte ich nur die Typen, die schnell spielen konnten. Ich mochte keine langsamen Spieler. Ich erinnere mich, einmal Dexter Gordon gehört zu haben, nachdem er nach Amerika zurückgekommen war, und ich dachte mir: „Dieser Typ spielt laaaangsam.“ Nach einer Weile bin ich hineingekommen, aber es brauchte ein bisschen, denn ich steckte davor in dem schnellen Zeug. Ich übte auch, schnell zu spielen. Ich erinnere mich daran, einen Punkt erreicht zu haben, wo ich Technik bloß der Technik wegen übte und mir wurde klar, dass es blöde war. Ich dachte mir: „Jetzt kann ich schneller als schnell spielen, aber was ist der Punkt? Ich muss einfach wissen, wie spielen. Nicht schnell. Einfach spielen.” So konzentriere ich mich jetzt bis zu einem gewissen Grad auf die Technik, aber nicht so wie damals, als ich jünger war. Wenn ich heute einen jungen Typen einfach nur schnell spielen höre, dann finde ich das unbefriedigend. Sie spielen eine Menge Nichts schnell.

Weil sich meine Philosophie verändert hat, hat sich auch mein Spiel verändert. Die Technik beruht in improvisierter Musik auf dem, was man zu sagen versucht. Ich sage das, weil improvisierte Musik anders ist als Musik, die man mit einem Orchester spielt. Wenn du mit einem Orchester zusammen bist, muss deine Technik auf dem Repertoire, das du spielst, beruhen, sonst wirst du nicht in der Lage sein, es zu spielen. Bei der improvisierten Musik kommt eine Menge von dem, was du sagst, aus einer inneren Quelle. Du bist ein spontaner Komponist und deine Technik entspricht dem, was du zu sagen versuchst. Zum Beispiel beruhte Coltranes Technik auf dem, was er zu sagen versuchte, und nicht auf Johnny Griffins oder Sonny Stitts Technik. Sie ist irgendwie ähnlich, denn sie waren alle innerhalb eines allgemeinen Sprach- und Kultur-Bereichs. Aber sie unterscheidet sich sehr, wenn man wirklich auf das schaut, was er von einem Saxofon-Standpunkt aus gemacht hat. In meinen frühen Jahren konnte ich schneller spielen, als ich es heute kann, aber ich kann heute auch Dinge machen, die ich früher nicht konnte, denn ich hatte in der damaligen Periode keinen Grund, sie zu machen. Eine Reihe von Beispielen umfasst das Micro-Tuning [Feinabstimmung in der Tonhöhe] und alternative Fingersätze [alternate fingerings], die ich verwende. Jetzt ist alles davon motiviert, was ich auszudrücken versuche.

Interviewer: Du hast mit Deiner Gruppe „Metrics“ den Hip-Hop auf eine ziemlich ernsthafte Weise erforscht. Was hat Dich dazu inspiriert, Hip-Hop mit Live-Instrumentation und –Improvisation zu verschmelzen.

SC: Hip-Hop hat überhaupt nichts damit zu tun. Ich betrachte Musik nicht in Begriffen von Stilen, Bezeichnungen und Kategorien. Das meiste von dem, was die Leute Hip-Hop nennen, mag ich überhaupt nicht. Die Perspektive, von der ich herkomme, ist, dass es in der schwarzen Community – das ist sehr generell – zwei Strömungen der Musik gibt: die mehr verfeinerten [sophisticated] Formen und die weniger verfeinerten Formen. Man findet das auch unter den Leuten, insofern, als es diejenigen gibt, die mehr verfeinert [sophisticated] sind, und die, die weniger verfeinert sind. Das heißt nicht, dass verfeinert notwendigerweise besser ist als nicht verfeinert, aber es zieht einen in der Regel das eine oder das andere an. Ich tendiere dazu, von der verfeinerten Sache angezogen zu werden. Aber weil ich das weiß, kommt mir vor, dass ich mich im Sinne einer Balance ausstrecken muss, mich auf ein Element des anderen, zu dem es mich nicht hinzieht, beziehen muss und es aufgreifen muss.

Eine andere Weise es auszudrücken, ist, dass ich erkennen kann, dass Charlie Parkers Musik verfeinert [sophisticated] ist, und ich jedoch auch erkennen kann, dass sie ein Element des Blues hat, der im Allgemeinen nicht verfeinert ist. Ich würde Einwände von Wynton Marsalis und anderen erhalten, aber meine Auffassung ist, dass Blues eine Musik ist, die man Volksmusik nennen kann, in Ermangelung eines besseren Wortes. Und meine Definition von Volksmusik ist, dass sie Musik vom Volk ist – von den gewöhnlichen Leuten. Sie ist Musik von Leuten, die sich mehr mit dem ursprünglichen Impuls der Musik befassen als mit der geistigen Entwicklung der Musik, die das ist, was ich Verfeinerung [sophistication] nenne. Das heißt nicht, dass die Musik simpel ist, denn man kann Stammes-Musik finden, die alles andere als simpel ist. Was Westler übersehen, ist, dass es in Stammes-Musik verschiedene Ebenen der Verfeinerung gibt. Was vielleicht irgendein Kind am Rande des Kreises macht, mag nicht verfeinert sein, aber was der Meister-Trommler macht, kann sehr verfeinert sein. Die Leute nehmen also auf verschiedenen Ebenen Anteil an der Musik, je nach dem, auf welcher Ebene sie zum Anteilnehmen in der Lage sind. Stammes-Musik ist so strukturiert, dass sowohl die Verfeinerten als auch die Nicht-Verfeinerten gleichzeitig Anteil nehmen können. Im Allgemeinen gilt das nicht für die westliche Kultur, wo verfeinerte Musik von Leuten mit verfeinerten Fähigkeiten gemacht werden muss. Niemand kann bei einem Wagner-Orchester einfach einsteigen, der nicht geübt hat. Und es hätte nicht irgendwer beim John-Coltrane-Quartet einsteigen können, obgleich Coltrane bewusst nicht-verfeinerte Elemente in seine Musik eingebracht hat, um die Dinge auszubalancieren – und das ist es, wovon ich das gelernt habe.

So betrachte ich das nicht als Hip-Hop, sondern mehr als den Impuls, der den Hip-Hop entwickelt. Hip-Hop ist, soweit ich damit zu tun habe, der Blues von heute. Ich meine nicht, dass er wie der Blues ist, aber er kommt vom selben Impuls her, sofern er nicht zu kommerzialisiert ist. Es ist heute schwierig, jemanden zu finden, der von diesem Impuls herkommt und nicht versucht, Millionen von Dollars zu machen und Jay-Z zu werden. Das ist die schwierige Sache. Meine Herausforderung war, Musiker aus diesem Bereich zu finden, die nicht verfeinert oder trainiert sind und noch diesen Impuls haben. Ich wollte Leute, die hauptsächlich etwas von einem Gefühls-Aspekt her machen, die aber doch an Kreativität interessiert sind und nicht in dieser „Ich möchte der nächste Jay-Z sein“-Idee gefangen sind. Ich brauchte Jahre, um sie zu finden. Ich hatte lange Zeit danach gesucht – schon lange, bevor es irgendwer auf CD hörte. Ich hatte Freunde in New York, die wussten, was ich versuchte, und sie sagten: “Du wirst niemals irgendwen finden, der mit diesem Zeug auch nur annähernd wie Du mit einer solchen Sensibilität umgehen kann, denn all diese Typen sind Schwach-Köpfe.“ Ich hörte das immer wieder. Letztendlich fand ich einige Leute, die Teil einer Gruppe sind, die sich „Opus Akoben“ nennt, und mit denen arbeite ich nach wie vor.

Diese Leute veränderten sich mit der Zeit, seit ich mich mit ihnen zusammen getan hatte. Sie sind heute nicht mehr dieselben Typen. Sie sind verfeinerter. Sie sind von uns beeinflusst und vice-versa. Das ist das, was immer geschieht. Wenn du mit meiner Gruppe nach Brasilien fährst, dann wirst du sehen, dass ich dort ein paar Typen zurücklasse, die von meinem Zeug beeinflusst sind und sich verändern. Ich war lange Zeit in Kuba und es gibt eine ganze Gruppe von kubanischen Typen (manche von ihnen verließen Kuba mittlerweile, manche sind immer noch dort), die von Ablegern der Ableger der Ableger dessen beeinflusst sind, was wir dort machten. Das ist komisch. Ich nahm es nicht wahr, bis ich einen Vortrag von Chucho Valdez hörte, der wesentlich älter ist als ich. Er sagte: „Auf einmal kam Steve Coleman nach Kuba und nun gibt es diesen ganzen Steve-Coleman-Trend.“ Und ich sagte: „Was?“ Aber dann dachte ich darüber nach und bemerkte, dass es wahr ist, vor allem an einem Ort wie Kuba, wo es sehr wenig Information gibt. Was man macht, kann eine größere Wirkung haben als an einem Ort mit einer Überschwemmung von Information.

Interviewer: Kannst Du einige Hip-Hop-Acts nennen, die Du magst? 

SC: Es sind sehr wenige. In früheren Zeiten mochte ich, was Public Enemy machte, als Sache aus dem populären Bereich. Aus dem weniger populären Bereich mochte ich Poor Righteous Teachers. Ich mochte ihre Rhythmen, aber sie hatten eine „Five Percent Nation”4)-Straßen-Islam-Sache, die meines Erachtens weitgehend Scheiße war. Ihre allgemeine Sache verfolge ich jedoch nach wie vor. Ich mochte Public Enemy wesentlich mehr hinsichtlich ihrer gesamten Sache, vor allem was Chuck D machte. Ich genoss auch die musikalische Seite von Public Enemy hinsichtlich der Sounds, die sie verwendeten. Ich traf mich vor einiger Zeit sogar mit einigen Typen der Gruppe.

Ich mochte auch den Wu Tang Clan, obwohl es schwierig ist zu sagen, was es war, das ich an ihnen mochte. Ich mochte das Comic-Heft und das Kung-Fu-Zeug, als ich jung war. Mein ganzes Interesse an östlicher Philosophie ergab sich aus einer jugendlichen Unterhaltungs-Sache wie Bruce Lee und Samurai-Filmen. Als ich älter wurde, kam ich zu dem, was hinter der Unterhaltung war. Ich studierte einige Konfuzius-Schriften und es brachte mich zu etwas Realem, obwohl es in meiner Jugend pure Unterhaltung war. Bei Wu Tang fragte ich mich, ob bei ihnen dasselbe geschehen wird. Werden sie weiterkommen und zu dem gelangen, was real ist? So ging es mir. Auch wenn der Name meiner Gruppe „Five Elements“ von meinem frühen Interesse an Kampfsport und Boxen kam und mein früheres Interesse nicht philosophisch war. Public Enemy war viel mehr ausgereift als Wu Tang. Bei den meisten der Gruppen heute geht es um das Beschimpfen und Verunglimpfen von jemandem. Ich mag das nicht, denn in der Regel passen sich Thema und Musik einander an.

Interviewer: Seit dem Du das BMG-Label verlassen hast, bist Du in den USA insofern praktisch ein Untergrund-Musiker geworden, als Deine Musik heute nur durch Import erhältlich ist. 

SC: Nicht praktisch. [lacht] Ich brauch Dir nicht zu erklären, was mit der CD-Industrie heute passiert. Die, die zuvor ein bisschen über dem Grund waren, sind heute ein bisschen unter den Grund geraten und die, die im Untergrund waren, sind noch weiter in den Untergrund geraten. Was soll ich sagen? Es ist nichts Neues. Ich lebe seit langer, langer Zeit in diesem Bereich. Ich habe im Untergrund begonnen und ich war nie weit über dem Grund. So ist es ein normaler Zustand, im Untergrund zu sein. Ich weiß nicht, wie weit verbreitet meine Musik damals in den BMG-Zeiten gehört wurde. Ich richte mich danach, wie viel ich in den USA gearbeitet habe. Heute arbeite ich in den USA ungefähr so viel wie immer schon. Es gibt bessere und schlechtere Jahre, aber es gab nie ein vernichtendes Jahr. Andererseits, wenn ich herumreise, finde ich Leute, die von der Musik wissen, und ich werde immer gefragt: „Wie kommt es, dass du noch nie nach Australien gekommen bist?“ Das ist ein Ort, wo ich nie war. Ich kriege das von überall her zu hören, denn die Leute sind wirklich gut darin, ins Internet zu gelangen und Sachen zu suchen. Und wenn die Leute von etwas begeistert werden, dann werden sie zu Predigern und Schülern und geben die Information an ihre Freunde weiter – das gilt vor allem für junge Leute, die stolz darauf sind, in eine Sache eingeweiht zu sein, in die andere nicht eingeweiht sind. Gary Trudeau, der die Doonsbury-Comicstrips macht, baute einmal eine kurze Sequenz über M-Base in seine Sache ein. Eine Person befragte eine andere darüber. Uns amüsierte, dass es erwähnt wurde. Um es zu erwähnen, muss Trudeau es also wahrgenommen haben. Er ist also ziemlich informiert, wenn es darum geht, Dinge zu kennen. Aber in Wahrheit war es eine Untergrund-Sache, auch wenn darüber gesprochen wurde.

Interviewer: Deine Internetseite ist technisch ziemlich einfach und doch eine der nützlichsten weit und breit. Beschreibe die Philosophie dahinter. 

SC: Diese Internetseite besteht seit dem, was die meisten Leute als den Beginn des Internets betrachten. Ich stand bereits 1985 auf Computer und verwendete E-Mails bereits, als sie noch als „Electronic Mails“ bezeichnet wurden. Ich erinnere mich an die erste Vorführung des Internets an der Universität von Berkeley. Ich sagte: „Das wird die Welt verändern.“ Der Typ, mit dem ich dort war, sagte: „Ich sehe nicht, wie das die Welt verändern soll. Es bricht alle 2 Sekunden zusammen! Nichts funktioniert.“ Ich sagte: „Aber kannst du dir vorstellen, was passieren wird, wenn sich das ausbreitet?“ Der andere sah es nicht.

Als ich zum Internet gekommen bin, gab es da keine kommerzielle Präsenz. Es war einfach eine Gruppe von Freaks. Der Typ, der es mir vorführte, sagte dann: „Ich kann Dir eine Web-Seite aufbauen.“ Ich sagte: „Was möchtest du dafür?“ Er sagte: „Nichts“. Das löste in meinem Kopf Alarm aus. Ich sagte: „Du willst mir eine Web-Seite umsonst machen?“ Etwas war da nicht in Ordnung. Ich dachte mir: „Da gibt es etwas, das ich nicht erkenne, und ich muss herausfinden, was hier abläuft. Niemand in diesem Land – vor allem wenn er dich nicht kennt – kommt daher und macht dir etwas umsonst.“ Ich forschte daher nach und sah, dass damals alles grundsätzlich kostenlos war, einschließlich der Browser. Leute versuchten gerade sich Besitz anzueignen, denn sie erkannten, dass diese Sache dabei war, groß zu werden, und wollten eine Präsenz aufbauen. Dieser Typ wollte meinen Namen dazu verwenden, um eine Präsenz für seine eigene Webseite aufzubauen. Nachdem ich das herausgefunden hatte, sagte ich ihm ab und sagte ihm, dass ich es selbst machen kann. Ich machte mich auf den Weg und kaufte ein Buch über HTML, denn damals gab es keine HTML-Editoren. Man musste all dieses Zeug in einem Textverarbeitungs-Programm machen. Ich lernte, wie man das macht, und ich musste es in keine Such-Maschine eingeben, denn die Seite gab es schon vor den Such-Maschinen. [lacht] Es gab sie schon immer. Wenn man nach ihr googelt, kommt sie auf der Stelle. Ich hab mich davor gehütet, sie zu oft zu verändern, denn ich mag die Optik der alten Schule. Allerdings wollte ich mehr Informationen anbringen und Dinge hinzufügen und so entwickelt sie sich weiter. Wenn du zu meiner Webseite kommst, wirst du keine hüpfenden Hunde oder Clowns oder ein Zeug, das sich mit einem Flash Player öffnet, sehen, aber du wirst echte Information bekommen. Auf anderen Seiten bekommst du all diesen Schnick-Schnack, aber wenn du tiefer gräbst, dann ist da nichts.

Interviewer: Du gibst auf Deiner Webseite komplette Alben aus Deinem früheren Katalog gratis her. Was brachte Dich dazu? 

SC: Was bei mir ablief, war Folgendes: Ich entschloss mich ungefähr um 2000 zu einer 18-monatigen Aus-Zeit. Ich will nicht sagen, ich wäre wiedergeboren worden, aber als ich zurückkam, hatte ich einige andere Ideen. Ich hatte eine Pause vom Auftreten und vom Aufnehmen genommen, aber nicht von der Musik. Das allein erregte bei BMG, meinem damaligen Label, Anstoß. Als ich zurückkehrte, erregten meine Ideen bei ihnen noch mehr Anstoß. Ich ging zu BMG mit der Idee, eine Aufnahme zu machen und sie gratis herzugeben. Ich brauchte lange Zeit, um die Typen in der so genannten Jazz-Abteilung davon zu überzeugen, dass sich das Paradigma ändert. Ich sagte ihnen, wir brauchen ein neues Programm, denn die Dinge verändern sich und man kann nicht alles mit einem Kopier-Schutz erfassen. Man kann diese Leute nicht besiegen, es ist also besser, sich mit ihnen zusammenzutun. Musik zu kaufen, war immer eine Sache junger Leute. Ältere Leute kaufen im Allgemeinen sehr wenig Musik. Wenn man also mit dem mitgehen will, was heute geschieht, muss man mit dieser jungen Horde gehen, die Video-Spiele kauft. So überzeugte ich schließlich die BMG-Typen, mit denen ich arbeitete, und sie trugen diese Ideen ihren Vorgesetzten vor, die daraufhin sagten: „Ihr seid verrückt. Werdet diesen Typen los!“ Das beendete also meine 10-jährige Beziehung zu BMG, nachdem ich mit ihnen von 1990 bis 2000 zusammen war.

Ungefähr zu dieser Zeit war ich im Begriff, im Süden von Frankreich ein Konzert zu geben, es selbst aufzunehmen und es gratis herzugeben. Das war mein Plan. Der Leiter der Jazz-Abteilung bei BMG mochte mich und das, was ich machte, und hielt es für sehr bedeutend. Er befand sich insofern in einer Fantasie, als der Grund dafür, dass er mich zu dieser Abteilung brachte, in seiner Vorstellung bestand, dass er wie Coltranes Produzent beim Impulse!-Label wäre. Er mochte die Idee, Coltrane mitten in der Nacht ins Studio hineinzuschmuggeln, auch wenn die „hohen Tiere“ sagten: „Mach mit diesem Kerl keine Aufnahmen mehr. Er bringt uns um.“ Er war also diese Art Typ, der bereit ist, im Widerspruch zu seinen Vorgesetzten vorzugehen und diese rebellische Person zu engagieren. Später erzählte er mir, er dachte, ich sei sein Coltrane. Ich sagte: „Ich bin nicht Coltrane. Du träumst.“ Und so war er traurig, dass diese Beziehung auslief, und er wollte die Geschichte weiterlaufen lassen. Er kontaktierte deshalb diesen anderen Typen bei Label Bleu, einem kleinen französischen Label, das nicht so einer großen Organisation verpflichtet war. Er sagte: „Steve Coleman ist dabei, sich selbständig zu machen und du solltest ihn dir schnappen, bevor er das tut. Aber du musst wissen, er hat einige ziemlich seltsame Ideen.“ Der Typ von Label Bleu kontaktierte mich also.

Wir waren auf Tournee und der Typ rief mich im Zug auf meinem Handy an und sagte: „Kann ich dich treffen, um mit dir zu reden, bevor du machst, was du zu tun versuchst?“ Ich sagte: „Wie willst du dich mit mir treffen? Wir sind auf Tournee und fahren herum.“ Er stieg an einem Punkt in den Zug zu und unser Treffen war zwischen diesem Punkt und dem, wohin wir fuhren. Es war wie eine Art Orient-Express-Sache. Wir hatten also ein Treffen im Zug-Wagon und als wir ausstiegen, hatten wir eine Abmachung. Er hörte sich mein ganzes Zeug an und ich sagte ihm, wie ich auf meiner Webseite Zeug gratis hergeben will, wie ich diese Gratis-Platte mache und wie sich die Platten-Industrie verändert, und er sagte: „Wir sind einverstanden. Wir können es in Gang bringen. Komm zu uns und wir werden mit dir arbeiten.“ Ich sagte: „Wirklich?“ [lacht] Ich bekam einen Schock. - Das ist also mein Verhältnis. Ich weiß, sie haben keinen guten Vertrieb in den USA, aber was mich mehr interessierte, war, dass sie bereit waren, diese Ideen zu unterstützen. Wir arbeiteten eine wirklich tolle Vereinbarung aus, die für mich funktionierte. Es war nicht in finanzieller Hinsicht toll, denn die Budgets waren kleiner. Nun steckt Label Bleu wie jedes andere Label in der Krise. Wir haben bei ihnen eine offizielle Platte im Kasten, aber sie haben Probleme mit den Vertriebshändlern, sodass der Status unsicher ist.

Wenn ich zurückschaue, so hatte ich eine Menge Probleme mit BMG. Auch wenn ich mit ihnen Platten veröffentlichte, so kämpfte ich doch mit ihnen die ganze Zeit. Der ganze Grund, warum ich zu BMG France ging, war, dass ich eine Platte in Kuba machen wollte und das BMG-Label in den USA sagte: „Nein. Wir können in Kuba gar nichts machen. Wir können das nicht unterstützen.“ So musste ich zu diesem Zweck außerhalb der USA gehen, einfach wegen dieser bescheuerten Politik, mit der ich nichts zu tun habe. Auch gab es bei BMG in Amerika immer jemanden, der versuchte, mich dazu zu bringen, mit TLC5), Destiny’s Child6) oder so etwas eine Platte zu machen. Das passierte dauernd. Die R&B-Abteilung kommt etwa zu mir und sagt: „Wir finden, du hast eine gewisse Art von Sensibilität und es wäre großartig, wenn du eine Platte mit denen und denen machen würdest.“ Ich sagte: „Großartig für euch. Nicht für mich.“ Ich bewegte mich in eine esoterische Richtung und das ergab nicht viel Sinn für sie. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war, dass ich die Genesis-Platte machte. Wahrscheinlich hörten sie es und sagten: „Was zum Teufel?“ Es ist eine Sache mit einer großen Gruppe und mit all diesem kabbalistischen Zeug und es war zwar nicht gerade Coltranes Ascension, aber es mag für sie so ähnlich geklungen haben.

Interviewer: Ascension to Light , deine letzte BMG-Platte, erschien in den USA überhaupt nicht. Ich denke, das Ende war da wohl bereits in Sicht. 

SC: Das erschien hier nicht, weil es ganz am Ende der Vertragsbeziehung aufgenommen wurde. Es wurde Opfer der Geschäftsführungs-Kriege. Es schaffte es deshalb nicht mehr. Es wurde veröffentlicht, als dieses ganze Zeug, von dem ich Dir erzählt habe, zusammenbrach. Sie machten daher nur pro forma eine minimale Veröffentlichung. Sie haben es nicht wirklich veröffentlicht. Sie legten es einfach beiseite.

Interviewer: Ich verstehe, Du hast Dich dafür entschieden, unabhängig von jedem Label Aufnahmen zu machen, um die Musik so zu dokumentieren, wie sie ohne unmittelbare Rücksichtnahme darauf, wie sie dann verkauft werden kann, entsteht. 

SC: Ich bin zurückgekehrt zu der Art, wie die Leute die Dinge in Charlie Parkers Tagen gemacht haben: Sie haben es in Gang gehalten, ins Studio zu gehen, und manches Zeug schaffte es dann auf eine Platte und manches nicht. Die meisten Platten aus diesen früheren Tagen wurden nicht als komplette Alben gemacht. Sie gingen hinein und machten 4 oder 5 Songs und das war es. Dann gingen sie wieder hinein und machten ein paar weitere. Die meisten Platten, die du gekauft hast, waren Kompilationen dieser verschiedenen Dinge, die sie machten. Auch eine Menge Coltrane-Platten sind so. Das mache ich jetzt also. Ich warte nicht auf eine Platten-Firma, denn ihre Art zu arbeiten ist, ein Programm zu erstellen, und jedes Jahr oder so sagen sie: „Es ist Zeit eine Platte zu machen.“ Ich habe das immer gehasst. Ich entschied mich, falls ich genug Mittel habe, eine Aufnahme zu machen, wenn wir etwas zu sagen haben, und wenn im Laufe der Zeit eine Gelegenheit für eine Platte daherkommt, dann haben wir dafür eine Menge Zeug. Ich betrachte Platten als eine Schnappschuss-Dokumentation von dem, was zu diesem Zeitpunkt passiert. Es gibt da nichts von dieser Art „Ich machte diese Platte, weil mein Vater starb“-Zeug. Machen wir uns doch nichts vor, die Leute denken über dieses Zeug nach, nachdem sie die Platte gemacht haben, und dann versuchen sie, ihr eine Linie zu geben. Das führt dann dazu,dass Sting sagt: „Meine Großmutter ist gestorben und ich erlebte eine schwere Zeit und das ist es, was ich machen musste.“ Im Studio hingegen denken sie: „Was für einen Ohrwurm können wir einsetzen, um die Platte zu verkaufen?“ [lacht] Mein Weg ist also, dann, wenn wir etwas zu sagen haben, hineinzugehen und das Zeug zu dokumentieren. Ich dokumentiere jetzt eine Menge meines Live-Zeugs. Die Aufnahme-Geräte sind heute gut genug, dass man wirklich veröffentlichen kann, was man live aufnimmt. Man möchte jedoch nicht den Markt mit einer ganzen Menge von Zeug überfluten, die niemand verdauen kann.

Bei Weaving Symbolics war ich bereits dabei, das zu machen. Eine Menge dieser Sachen, wurden an verschiedenen Orten aufgenommen – hauptsächlich in Brasilien, aber manches davon auch in den USA. Das ist Teil des Titels – weben und es zusammenfügen. Wenn es nicht anders geht, so werde ich selbst die Musik veröffentlichen. Ich mache mir da keine Sorgen, denn ich bin nicht in dieses Geschäft eingestiegen, um Platten zu machen. Platten sind eine Folgeerscheinung der Technologie. Wenn ich in Beethovens Zeit lebte, gäbe es keine Platten. Für mich ist die Hauptsache, einfach zu spielen – und ich meine damit nicht einmal vor Leuten, denn das meiste von dem, was Musiker machen, wird niemals gehört, außer von den Musikern selbst. Es wird eine Menge Musik in den Häusern der Leute gespielt und so begann es für mich. Es begann nicht vor Leuten auf einer Bühne. Es begann einfach damit, Musik machen zu wollen und mit ein paar Typen zusammenzukommen, um das zu tun.

Um auf die Untergrund-Sache zurückzukommen, ja, ich bin im Untergrund – gewiss vom Standpunkt Wynton Marsalis aus, aber ich bin wesentlich weiter über dem Grund, als damals, als ich begann. [lacht] So sehe ich das also. Ich habe viel Erfolg darin, das zu tun, was ich in meinem Leben tun möchte, und damit zu überleben. Ich bin wesentlich weiter über dem Grund als damals, als ich in Chicago lebte oder als ich zum ersten Mal nach New York kam und für meinen Unterhalt auf der Straße spielte. Ich denke also, dass ich es weit gebracht habe, und ich mache, was ich tun mag. Einige Musiker machen nicht, was sie tun möchten. Sie machen, was sie machen müssen, um ihren Status zu halten. Du weißt, was mit reichen Leuten passiert: Sie möchten behalten, was sie haben. Ich hatte über das ein langes Gespräch mit Cassandra Wilson. Eine Menge professioneller Musiker arbeiten wirklich für andere Leute, die wie Parasiten sind, indem sie mit dem, was man macht, Geld machen. Ich möchte nie in das hineingeraten. Ich möchte nur das machen, was ich tun will, und wenn die Geschichte ein Lehrer ist, dann heißt das, dass man im Untergrund ist. Wenn du populär wirst, dann geht es nicht mehr nur um dich. Es liegt an all diesen anderen Leuten, die dieses Interesse an allem haben, was du tust. Unabhängig davon, wie du zu deinem Punkt der Popularität gelangt bist, sind sie nur daran interessiert, dich dort zu halten und dich nicht eine andere Richtung einschlagen zu lassen als die, die dich dorthin geführt hat.

Interviewer: In Deinem Begleittext zu Weaving Symbolics hast Du geschrieben: „Ich hoffe, die Musik kann helfen, Dich zu Dir selbst zu bringen.“ Kannst Du darauf näher eingehen? 

SC: Ich betrachte diese Musik so, wie ich Akupunktur betrachte. Der Punkt ist bei der Akupunktur nicht, dass sie einen heilt, sondern dass sie Blockaden löst, wodurch dem Organismus ermöglicht wird, selbst zu heilen. Coltrane wurde einmal gefragt: „Glaubst du, dass Musik Leute verändern kann?“ Er sagte: „So würde ich das nicht formulieren. Ich glaube, Musik kann die anfänglichen Gedanken-Muster beeinflussen, die zu einer Veränderung einer Person weiterführen können.“ Das ist sehr ähnlich wie bei der Akupunktur. Die Veränderung kommt von innen. Ich denke, es ist typischerweise nicht so einfach, in sich selbst zu gehen, denn man ist ständig in all diese äußeren Dinge verwickelt, die einen außerhalb von sich selbst bringen. Die materielle Welt ist außerhalb von einem selbst. Für die meisten Leute ist daher ihre gesamte Welt außerhalb von ihnen selbst. Die meisten Leute erwähnen nicht einmal irgendetwas Innerliches, außer dieser kleinen Klischees wie „ich fühle dies“ und „ich fühle das“. Sie sind normalerweise nicht in Berührung mit dem, was in ihnen ist. Das ist es also, worüber ich sprach. Sonny Rollins sagte mir einmal: „Ich denke, es gibt 2 Arten von Musik: jene, die erweitert, und jene, die verengt. Ich möchte Teil der Tradition sein, die erweitert.“ Er erwähnte keine Kategorien oder so etwas. Er sagte: „Wenn du zum Beispiel den Fernseher aufdrehst: alles, was du da hörst verengt – musikalisch gesehen.“ Damit meinte er eine Verengung des Bewusstseins. Er möchte also an einer Musik teilhaben, die das Bewusstsein erweitert. Er drückte es eloquent aus. Das ist die Richtung, an der auch ich teilhaben möchte. Das hat nichts damit zu tun, ob es Jazz ist oder irgendeine andere Kategorie. Es gibt einige Leute, die versucht haben, eine Musik zu schaffen, die dich mehr in Berührung mit dem bringt, was du bist - nicht wer du bist, sondern mit deiner inneren Essenz. Das ist es, was ich machen möchte.

 

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  1. Internet-Adresse des Originals: http://www.innerviews.org/inner/coleman.html – Das Interview erschien im März 2008. Prasad wies in einem Internet-Forum am 21. März 2008 auf das Interview hin und bezeichnete es als „brandneu“.
  2. Quantisierung bedeutet, dass nicht jeder beliebige Zahlenwert möglich ist, sondern nur bestimmte Werte, die in regelmäßigen, mathematisch definierten Verhältnissen zueinander stehen, zum Beispiel die Werte der ganzen Zahlen. Die Tonsysteme der Musik beruhen auf einfachen Zahlenverhältnissen, zum Beispiel ist die Oktave eine Verdoppelung der Tonfrequenz und auch Rhythmen bestehen aus ganzzahligen Unterteilungen und Gruppierungen.
  3. von lateinisch augmen, „Vermehrung, Zuwachs“; in der Musik: Vergrößerung von Notenwerten oder Intervallen, zum Beispiel wird aus einer Viertelnote eine halbe Note oder es werden Tonsprünge entsprechend vergrößert
  4. Die „Five Percent Nation” (Nation of Gods and Earths) ist eine afro-amerikanische Bewegung, die von einem früheren Mitglied der Nation of Islam gegründet wurde.
  5. „TLC war eine der kommerziell erfolgreichsten weiblichen R&B-Gruppen aller Zeiten, die in den 1990er Jahren mit einer Mischung aus Pop, Hip-Hop und urbanem Soul zu Superstar-Ruhm gelangte.“ (QUELLE: Internetseite ALLMUSIC, Internet-Adresse: http://www.allmusic.com/artist/tlc-mn0000007689h, eigene Übersetzung)
  6. „Destiny’s Child stieg auf, um zu einer der populärsten weiblichen R&B-Gruppen der späten 1990er Jahren zu werden und schließlich hinsichtlich des kommerziellen Erfolges sogar mit TLC zu rivalisieren.“ (QUELLE: Internetseite ALLMUSIC, Internet-Adresse: http://www.allmusic.com/artist/destinys-child-mn0000210991/biography, eigene Übersetzung)

 

 

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