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„Seine Musik ist schwer zu verstehen. Sie geht niemandem leicht in die Ohren, auch vielen Jazzfreunden nicht. Man hat sie asketisch genannt und es gibt wahrscheinlich kein Wort, das sie besser kennzeichnet.“ So beschrieb der deutsche Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt 1953 in der ersten Ausgabe seines Jazzbuchs die Musik von Charlie Parker.1) In späteren Ausgaben des Jazzbuchs findet sich diese Aussage nicht mehr und es ist heute wohl nicht ohne weiteres nachvollziehbar, wie Parkers Musik so empfunden worden sein kann. Die überquellende Lebendigkeit und Ausdruckskraft der Parker-Musik, insbesondere seine Art, bei ohnehin hohem Tempo seine Linien noch mit einem Schwall von Tönen „vollzustopfen“ (Dizzy Gillespie)2), sowie auch Parkers exzessive Lebensweise widersprachen völlig dem Bild eines Asketen. Wie Berendt zum Eindruck gelangte, eine asketische Musik zu hören, wird allerdings durch seine näheren Ausführungen vorstellbar: „Da ist nichts von der voluminösen Sonorität Coleman Hawkins, von dem triumphalen Klang Louis Armstrongs, dem gefühlsreichen Ausdruck Sidney Bechets. Der Klang tritt zurück. Er ist nichts als ein Mittel, um musikalische Ideen in die Welt zu tragen: wie eine Leinwand Mittel ist, um Bilder darauf zu malen. Auch Charlie Parker selbst tritt zurück. Man muss ihn einmal spielen sehen: mit strengem, hartem Gesichtsausdruck, unbeweglich, fast erstarrt.“3) Nun ist daraus, dass sich Parker beim Spielen wenig bewegte, gewiss nicht auf Strenge oder Härte zu schließen und der Gesichtsausdruck ergibt sich bei Bläsern generell aus dem Spielen, kaum durch eine Gemütslage. Berendt scheint seinen persönlichen Eindruck von der Musik in Parkers Erscheinung hineingedeutet zu haben. Er vermisste nach seiner Erläuterung die eindrucksvollen Klangfarben, die er an älteren Musikern wie Hawkins, Armstrong und Bechet schätzte und die allgemein für Hörer am leichtesten zu erfassen sind. Dass Parker weniger üppige Farben verwendete, empfand Berendt offenbar als Gefühlsverlust und Parkers „musikalische Ideen“ bereiteten ihm anscheinend kein Vergnügen. Es ist offensichtlich, dass er mit Parkers Musik zu wenig vertraut war, um diese intelligente und ebenso emotionale, mit großartiger Poesie ausgestattete Musik zu genießen. Da sie ihm nicht zugänglich war und daher keine entsprechenden Empfindungen auslöste, betrachtete er sie als gefühlsarm und beschrieb sie als „asketisch“.
Dem Jazz wird häufig eine emotionale Kargheit angelastet, die in Wahrheit auf mangelndem Zugang beruht. Ein junger Musikjournalist schrieb im Jahr 2010 treffend: Wenn Leute sagen, sie würden Jazz nicht „verstehen“, sie seien „zu dumm“ für Jazz oder umgekehrt, Jazz sei zu „intellektuell“, „verkopft“, „hochgestochen“, dann sei das oft eine Umschreibung oder rationalisierende Erklärung dafür, dass sie eine gewisse Richtung nicht mögen. Unvertrautheit sei nicht dasselbe wie Intellektualität. Tatsächlich würden die meisten Leute viel Musik mögen, die sie nicht „verstehen“. Auch er könne nicht alles musikwissenschaftlich analysieren, was zu hören ihm Vergnügen bereitet. Beim kürzlich erschienenen Album4) von Steve Coleman würden ihn seine Fähigkeiten als Kritiker im Stich lassen und ein anderer Journalist habe von einem Coleman-Konzert berichtet, dass eine Gruppe guter Musiker zuhörte und sich verunsichert fragte, was in dieser Musik abläuft. Aber Colemans Album übe eine so starke, rätselhafte Anziehung auf ihn aus, dass er es sich auch nach fast drei Monaten immer wieder anhöre.5)
Steve Colemans Musik wurde von deutschsprachigen Jazz-Kritikern viele Jahre lang in einer Weise beschrieben, die noch wesentlich schärfer Gefühlskälte zum Ausdruck brachte als Berendts relativ vorsichtiger Ausdruck „asketisch“: Sie sei „unterkühlt“, „kalkuliert“, das Produkt eines „eiskalten Egomanen“6) (offenbar weil er keine Rücksicht auf Hörerbedürfnisse nehme), „kühle Gehirnakrobatik“7), eine „Verrätselung des Jazz“8), sein Saxofonton sei „kristallklar“9), bei seiner „zersplitterten und verhackstückten“ Rhythmik wolle man „fluchtartig den Raum verlassen“10). Ein Musiker zählte Coleman zu „den intellektuelleren schwarzen Musikern“ und brachte ihn in Verbindung mit dem Musikerkreis um den „weißen“ Pianisten Lennie Tristano, der von der Ästhetik der europäischen Konzertmusik beeinflusst war und dessen Stilrichtung in den 1950er Jahren als Cool-Jazz bezeichnet wurde. Coleman verwehrte sich dagegen und sprach dabei „rassische“ Stereotype an.11)
Steve Colemans Musik ist komplex, selbst den meisten Jazz-Hörern kaum vertraut und sie nutzt die rhythmischen, melodischen und harmonischen Möglichkeiten in einem noch wesentlich ausgedehnteren Maß als Parkers Musik. Dennoch zog sie ab Mitte der 1990er Jahre ein beträchtliches Publikum an und versetzte es in Begeisterung.12) Im Jahr 2016, als Coleman 60 Jahre alt wurde und seine Musik diffiziler war als je zuvor, hatte seine Internetplattform13), die überwiegend Informationen bereitstellt, ungefähr drei tausend Mitglieder aus vielen verschiedenen Ländern.14) Seine Hörerschaft bleibt gewiss relativ begrenzt, diese schätzt seine Musik aber keineswegs wegen Gefühlskälte oder seelenloser abstrakter Klänge. Seine Ideen mögen kühn sein und die Strukturen, die er aufbaut, kompliziert, doch sind seine Bauteile zu einem erheblichen Teil altbewährte rhythmische und melodische Elemente15) und es geht ihm letztlich um die Wirkung der Ergebnisse, nicht um bloßes Konstruieren16).
Kommerziell erfolgreiche Musik springt einen häufig mit dick aufgetragenen Klangfarben, simplen Beats, einer ansprechenden Stimme und fast kinderliedartiger Einfachheit an und erschöpft sich dann rasch. Möchte man aus Musik einen reicheren Genuss auf mehreren Ebenen ziehen, ist ein gewisser Verzicht auf allzu vordergründige Reize erforderlich. Der mitreißende, hämmernde Beat muss verschwinden, damit das Ohr angeregt wird, sich das viel buntere Geschehen einer Polyrhythmik zu erschließen. Sounds müssen schlanker und feiner sein, damit vielfältige Strukturen sichtbar werden. Weniger süße Harmonien ermöglichen ein wesentlich breiteres Klang- und Ausdrucksspektrum. Der menschliche Klang einer Singstimme wirkt so ansprechend, dass der restliche Teil der Musik nur als ihre Begleitung wahrgenommen wird. Fehlt sie, so können all die musikalischen Qualitäten einer instrumentalen Musik in den Vordergrund treten. Erwartet man sich von Musik nicht unbedingt eingängige, liedartige Melodien, dann öffnet sich der Raum für melodische Linien, die sich in atemberaubenden Schleifen, Wendungen und Sprüngen bewegen und durch schillernde harmonische Bezüge führen. Ein wenig „Askese“ gegenüber Aufdringlichem kann also das Hörerlebnis sehr bereichern. Auf diese Weise fordern Musiker wie Charlie Parker und Steve Coleman einerseits heraus und bieten andererseits ein unerschöpfliches Reservoir für faszinierende musikalische Erlebnisse.
Es gibt aber sehr wohl auch Musik, die insofern asketisch genannt werden kann, als in ihr die eigentlichen musikalischen, sinnlichen Qualitäten reduziert oder gar beseitigt sind, um anderen Zwecken des Musizierens Platz zu machen. So können Musiker spielen, um sich auszuleben, abzureagieren, in gewisse „spirituelle“ Zustände zu gelangen, zu protestieren, zu schockieren, mit ungewöhnlichen Klängen und musiktheoretischen Konstruktionen zu experimentieren oder eine mehr oder weniger geistreiche „Kunst“ zu schaffen, bei der es darauf ankommt, was „der Künstler uns sagen will“17). Auch der Jazz wurde in solche Bereiche hinein ausgedehnt und es lässt sich keine klare Grenze ziehen, jenseits der es nicht mehr sinnvoll ist, die Bezeichnung Jazz anzuwenden. John Coltranes Musik seiner letzten Jahre bestand bereits in erheblichem Maß aus arrhythmischen und atonalen Anteilen, war aber zugleich (vor allem durch sein eigenes Spiel) eng mit der Jazz-Tradition verbunden.18) Andererseits haben jedoch zum Beispiel die „quietschenden, kreischenden, röchelnden, stöhnenden, polternden“19) Stimm-Improvisationen des Engländers Phil Minton20) gar nichts mit der Musikalität der Tradition eines Charlie Parkers gemeinsam, sodass Mintons ausführliche Erwähnung im Jazzbuch21) ein problematisches Jazz-Verständnis widerspiegelt. Um solche „unmusikalische“ „Musik“ nicht als Scherz zu empfinden, sondern als Kunst zu schätzen, braucht es wohl die Bereitschaft, einem ursprünglich typisch europäischen Kunstanspruch nahezu jeden sinnlichen Genuss zu opfern, also eine wahrlich asketische Haltung.
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